New Yorks wichtigster Modefotograf:Das Fashion-Fossil

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Mode-Bloggerinnen gehen heutzutage in die achte Klasse und mit einer Digitalkamera kann jeder zum Streetstyle-Fotografen werden. Doch der wichtigste Trendsetter der USA ist 81 Jahre alt und seit Jahrzehnten im Geschäft: Bill Cunningham. Ein Porträt.

Alex Bohn

Zwei "Nikon FM2" zerren an seinem Hals. Eine der beiden Spiegelreflexkameras hängt an einem mit Klebeband geflickten Schulterriemen. Der weißhaarige Herr steht nach vorne gebeut, mit leicht gekrümmten Schultern.

Sie nennen ihn den Urgroßvater der Streetstyle-Fotografie: Bill Cunningham, 81 Jahre alt. (Foto: AP)

Haben Sie einen Moment? "Ich muss zur nächsten Schau", sagt er, "wir sehen uns, ich bin die ganze Woche unterwegs." Dann kettet er sein Herrenrad von einem Laternenpfahl vor dem New Yorker Lincoln Center los, winkt kurz und taucht in den dichten Feierabendverkehr ein. Es ist New York Fashionweek, er tritt in die Pedale wie ein kleiner Junge. Der Mann ist 81, und er ist nicht irgendein Fotograf. Sein Name ist Bill Cunningham, und er ist vielleicht der wichtigste lebende Modefotograf überhaupt. In jedem Fall ist er der ungewöhnlichste.

Seit knapp vierzig Jahren fotografiert er Mode für die New York Times. Seine Schnappschüsse erscheinen in der Sonntagsausgabe. Es gibt keine wichtige Modenschau, keine Benefiz-Gala, auf der er fehlt. Bill Cunningham kennt sie alle, die Chefredakteure, die Modedesigner, die Gesellschafter, die gesamte New Yorker High Society. Nicht alle sind ein Bild wert. "I am looking for stunners", sagt er. Leuten, die ihn verblüffen, die so gut aussehen, dass es ihn umhaut.

Vom Glanz und Pomp seines Sujets ist er unbeeindruckt. Er fotografiert sie nur: die Menschen, von denen einige jeden Tag ein anderes Paar Schuhe tragen, das mehrere hundert Euro kostet. Sie haben noble Häuser und Autos, Fahrer für die Autos und schicken ihre Kinder auf Privatschulen. Bill Cunningham hingegen lebte bis vor kurzem in einem Ein-Zimmer-Apartment in der Carnegie Hall, ohne Bad und Küche. Das Zimmer war mit Aktenschränken zugestellt, bis in den letzten Winkel. Negative seiner gesammelten Arbeiten, Magazine und Bücher füllten die Schränke. Sein Bett war eine Schaumstoffmatratze, die auf Getränkekisten und Bücherstapeln stand.

Er hatte auch keinen Fernseher. Nicht mal einen Kleiderschrank; die paar Hemden hingen auf Bügeln an den Aktenschränken. Im letzten Jahr sollten die Wohnungen in der Carnegie Hall in Büros umgewandelt werden. Cunningham musste in eine Umsetzwohnung ziehen. Mit Bad. Und Küche. In dem Dokumentarfilm "Bill Cunningham - New York", der im letzten Jahr von zwei Redakteuren der Times über ihn gedreht wurde, kommentiert er knapp: "Was soll ich mit all diesen Räumen? Die muss man bloß in Schuss halten."

Er hat Besseres zu tun, als seine Wohnung zu putzen. Den größten Teil des Tages verbringt er auf der Straße, hier entstehen die meisten seiner Bilder. Jeden Tag radelt er durch Manhattan und legt sich auf die Lauer. "Man kann der Öffentlichkeit nicht berichten, wenn man nicht alles gesehen hat", lautet eine seiner Maximen. Mit Vorliebe fotografiert er Passanten an den vier Ecken der 5th Avenue und 57ten Straße. Leute auf dem Weg zur Arbeit, von der Arbeit ins Restaurant, Touristen auf dem Weg vom Hotel ins Guggenheim oder zur Magnolia Bakery.

Er wird auch oft als Urgroßvater der Streetstyle-Fotografie bezeichnet, jener mittlerweile so populären Form der Fotografie, bei der Menschen so abgelichtet werden, wie sie auf der Straße unterwegs sind. Anders als die Streetstyle-Fotografen von heute - wie der Blogger Scott Schuman oder dessen Blogger-Freundin, die Pariserin Garance Doré - fotografiert Bill Cunningham seine Motive nicht frontal. Er fängt die Mode in Bewegung ein, hält einen flüchtigen Moment fest. Nie geht es um die Person, die er fotografiert. Die Kleidung steht immer für sich.

Da ist zum Beispiel die legendäre Geschichte seiner ersten Times-Veröffentlichung in den frühen siebziger Jahren. Ein Mantel fiel ihm auf, mit einer interessanten Schulterpartie. Er drückte auf den Auslöser seiner Kamera. Dann erst sah er, dass andere Passanten seinem Motiv nachsahen. Er erkannte, was er auf den ersten Blick übersehen hatte: Die Dame im Mantel war Greta Garbo.

Bill Cunningham spürt die Mode-Stimmungen auf den Straßen von New York auf. Tragen plötzlich alle Blau, fängt Bill Cunningham diese Laune ein. Fotografiert Frauen in blauen Kleidern, Nahaufnahmen von blauen Schuhen, selbst die blauen Hortensien und blauen Keramik-Übertöpfe, die auf dem Farmer's Market reißenden Absatz finden, fließen in die Collage für die Sunday Times ein. Bill Cunningham ist ein Foto-Reporter, er inszeniert nicht, er bildet die Mode dort ab wo sie sich täglich zeigt.

Als Reporter fühlt er sich der Wahrheit verpflichtet. Deswegen hält er Distanz zu den Leuten, die er fotografiert. Auf den Veranstaltungen, zu denen er eingeladen ist, setzt er sich an keinen Tisch, nicht einmal ein Glas Wasser nimmt er an. Er macht die Runde, grüßt, scherzt, schießt ein paar Fotos und verschwindet so schnell und unauffällig, wie er gekommen ist. Immer trägt er eine Uniform aus einer blauen Handwerkerjacke, braunen oder beigefarbenen Khaki-Hosen und derben schwarzen Lederschuhen. Wenn es regnet, streift er einen unförmigen Regenumhang über, den er an mehreren Stellen mit Heftklammern repariert hat. In der Dunkelheit trägt er eine reflektierende Schutzweste, damit er auf dem Fahrrad gesehen wird. Er weiß, dass sein bescheidener Aufzug nicht jedem gefällt. Aber das kümmert ihn nicht.

Sein Verhältnis zur Wahrheit schätzen auch nicht alle. Als er vor Jahren für das Magazin Details arbeitete, deckte er Plagiate auf. Er zeigte ein Armani-Kleid neben dem Original von Serge Diaghilev. Daraufhin strich Armanis Media-Agentur alle Anzeigen, die sie gebucht hatte. Für immer. Ein anderes Mal stellte Bill Cunningham ein Kleidungsstück vor, das Izaac Mizrahi kopiert hatte. Der Designer reagierte anders. Er bot Cunningham einen Sitz in der ersten Reihe all seiner Modenschauen an. Auch für immer. Bei der Fachzeitschrift Women's Wear Daily kündigte Bill Cunningham, als man seine Bilder für eine "In-und-out"-Geschichte verwendete. Nach seinem Verständnis ist alles "in". Über finanzielle Konsequenzen machte er sich keine Gedanken. Niemals. "Geld ist das billigste Gut und Freiheit das teuerste", sagt er in dem Dokumentarfilm. Und beißt herzhaft in einen Drei-Dollar-Burger.

In der Mode ist Bill Cunningham eine Ausnahme. Keiner, der es so weit gebracht hat wie er, lebt so bescheiden. Ein Designer wie Helmut Lang mag sich aus der Mode zurückgezogen haben und Kunst produzieren. Aber er lebt ein Landleben in Wohlstand und käme kaum auf die Idee, auf einem Bett aus Getränkekisten zu schlafen.

Bill Cunningham wahrt Abstand und ist trotzdem mittendrin. Und er ist so freundlich und unverstellt wie wenig andere in der Branche. Bei der mit Spannung erwarteten Rodarte-Show auf der jüngsten New York Fashionweek zeigte sich das wieder. Gäste wie Anna Wintour, die Chefin der US- Vogue, Carine Roitfeld, die ehemalige Chefin der französischen Vogue, die Schauspielerinnen-Schwestern Dakota und Elle Fanning haben ihre Plätze bereits eingenommen. Bill Cunningham ignoriert sie. Genauso wie er die Sängerin Beyoncé Knowles ignoriert, die mit Nachrichten über ihre erste Schwangerschaft gerade Schlagzeilen macht. "Ich suche nach etwas, das schön ist", sagt er. Dann sitzt er auf seinem Stuhl in der ersten Reihe und die Schau beginnt. Hübsche Kleider mit großflächigen Drucken von Sonnenblumen, so wie van Gogh sie gemalt hat, schweben über den Laufsteg. Bill Cunninghams Kamera ruht in seinem Schoß.

Vielleicht kommt ihm das alles alt vor. Er hat das Thema ja auch längst verarbeitet, in einer Sommerausgabe der New York Times, mit Bildern von echten Sonnenblumen, von Menschen in sonnengelben Caprihosen und einer Frau in einem gelben Cocktail-Kleid, deren Handtasche die Form eines Bienenstocks hatte.

© SZ vom 15.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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