Möbel:Die Restanwälte

Stühle aus Holzabfall, Tische aus Verschnittmaterial oder Untersetzer aus Marmor-bruch: Immer mehr Designer verwerten so Reste.

Von Anke Eberhardt

Bei manchen war es Marmor. Bei anderen Leder. Bei Helle Herman Mortensen war es Stoff. Die dänische Designerin fing irgendwann damit an, Stoffreste aufzuheben. Ohne großes Ziel, nur, weil sie es nicht übers Herz brachte, hochwertiges Textil einfach wegzuwerfen. Erst später kam die Idee mit der Decke. "Ich hatte schon einige Stoffstücke gesammelt, aber bei Weitem nicht genug für eine Decke. Also ging ich zu einem Lagerverkauf für Reststoffe. Und plötzlich war da mehr als genug", erzählt Helle Herman Mortensen heute, nachdem sie mit ihrem Label Herman CPH die neunte Edition aus Resten des Stoffherstellers Kvadrat in die Läden gebracht hat. Aus der Liebe zum Überbleibsel ist ein Designkonzept geworden.

Stoffreste, Holzverschnitt, Steinfragmente: Immer mehr Firmen beschäftigen sich mit Produkten, die aus Resten hergestellt werden. Dabei ist das "Restsein" an sich ja zunächst nichts Positives; Übriggebliebenes, "Leftovers", das will doch eigentlich niemand. Selbst Materialien, die vormals luxuriös waren, liegen in der Ecke der Lagerhalle, sobald sie zu Resten geworden sind. Die Tasche, der Tisch, das Tablett sind teuer, der Verschnitt aber ist auf dem Weg in die Tonne. Oder eben in die Hände von Designern wie Helle Herman Mortensen. Denn jetzt, da Nachhaltigkeit die Allzweckwaffe jeder Marketingkampagne ist, erfährt der Rest auch in Mode und Design eine Aufwertung. Reste sind nicht mehr nur etwas, das man loswerden will. Ziel soll es nun sein, jedes Material vollständig zu verwerten. Von der Wegwerfgesellschaft zur Resteverwertungsgesellschaft.

Bei den Entwürfen mit Resten geht es auch um den Charme, das Besondere von Ausschuss

Klar, unter dem Oberbegriff Upcycling wird schon seit Längerem wie wild aufbereitet. Es werden Geldbeutel aus alten Fahrradschläuchen und Taschen aus Lkw-Planen genäht und aus PET-Flaschen Lampen gebaut, die zwar ökologisch vorbildlich sind, über deren ästhetischen Wert man jedoch streiten kann. Beim Resteverwerten wird aber nicht aus dem ausrangierten Produkt A ein neues Produkt B gemacht, sondern zum Beispiel aus den enormen Materialresten im Möbelbau ein weiteres Möbelstück.

Bereits 2009 brachte Tom Dixon seinen "Offcut Stool" auf den Markt: einen Hocker, der den Holzverschnitt als besonderen Charakter verkauft, die Tatsache also, dass das Material nahe der Rinde geschnitten wurde und Unregelmäßigkeiten aufweist. Genau darum geht es bei der Verarbeitung von Resten: um den Charme, das Besondere von Ausschuss - und dazu gibt's eine Portion Nachhaltigkeit oben drauf. Der "Offcut Stool" gilt bereits als Klassiker, die Idee ist aktueller denn je. Denn natürlich kann man auch einen gewöhnlichen Hocker kaufen - aber ein Stuhl mit einer Geschichte ist doch wesentlich interessanter.

Möbel: Nicht nur zum Resteessen: Ein Tisch aus Überbleibseln des Verbundwerkstoffes Corian, gebaut vom britischen Designer Rabih Hage. Fotos: Pim Top, Tina Stepensen, Leo Torri

Nicht nur zum Resteessen: Ein Tisch aus Überbleibseln des Verbundwerkstoffes Corian, gebaut vom britischen Designer Rabih Hage. Fotos: Pim Top, Tina Stepensen, Leo Torri

Produkte aus Resten sind aber nicht zwangsläufig billiger. Schließlich ist vor allem die Massenproduktion auf unkompliziertes Rohmaterial ausgelegt. Unregelmäßigkeiten, also gerade das, was den Charakter von Leftovers ausmacht, stören dabei eher. "Im Produktionsprozess macht Resteverwertung nur dann Sinn, wenn sie von der Primärstückzahl losgelöst ist", gibt der Möbelmacher Nils Holger Moormann aus dem Chiemgau zu bedenken. "Im Fall einer starken Nachfrage kann es vorkommen, dass man zu wenig Reste zur Verfügung hat und sie künstlich erzeugen muss."

Auch für Fehler gibt es bei Entwürfen aus Resten keinen Spielraum. So konnte bei Herman CPH ein Kissen nur deshalb nicht produziert werden, weil der Stoff falsch zugeschnitten wurde und von diesem Material dann nichts mehr auf Lager war. Unerfreulich für ein kleines Label - für eine große Firma wäre dieses Risiko untragbar. Bei Ikea beispielsweise wird auf Nachfrage zwar betont, wie vorbildlich man in Sachen Recycling sei. Was konkrete Resteverwertung anbelangt, werden bei den Schweden aber höchstens Sägeabfälle mit Kunststoffgemisch weiterverarbeitet, und aus eingeschmolzenem PET entstehen Kissenfüllungen. Es wird also neues Grundmaterial hergestellt, anstatt mit individuellen Resten zu arbeiten.

Gerade diese Individualität ist es aber, die kleine Designstudios an der Arbeit mit Überbleibseln reizt. In Rotterdam fertigt das Earnest Studio Servierbretter oder Untersetzer aus schönsten Marmorbruchstücken, die ansonsten einfach entsorgt würden. In London entwirft der Architekt Rabih Hage aus Verschnitten des Verbundwerkstoffes Corian ganze Tische, Stühle und Regale. Ursprünglich nur zur Präsentation der neuen Farbpalette des Materials gedacht, stahl seine "Leftover Collection" dem eigentlichen Rohstoff auf Messen sofort die Schau. "Ich wollte den sogenannten Abfall als genauso wertvolles Material behandeln wie das Original", so Hage. "In der Unvollkommenheit wirkt Schönheit für mich noch stärker. Und sie entfaltet sich bei einem Restmaterial gerade aufgrund seiner Herkunft und der Geschichte, die es erzählen kann."

Das gilt natürlich nicht nur für edle Rohstoffe wie Marmor. Klemens Schillinger, ein Designer aus Österreich, verwendet Beton und Holzreste, um seine "Leftover Stools" herzustellen - die Idee entstand aus angetrockneten Gipsresten in einem Eimer. Das junge deutsche Duo Stine Paeper und Angelina Erhorn von Moij Design webt aus Furnierstreifen, einem Abfallprodukt, ebenfalls einen Stuhl. Gemeinsam haben die meisten dieser Entwürfe die geringe Zahl. Es handelt sich entweder um Einzelstücke (wie bei Hage und Moij), oder sie kommen nur selten über zweistellige (Earnest Studio und Schillinger) beziehungsweise maximal dreistellige Stückzahlen (Herman CPH) hinaus.

Auch wenn sich in der Mode große Namen wie Hermès an ihre hochwertigen Reste wagen, ist das doch eher die Ausnahme. Das französische Traditionshaus verarbeitet für sein Projekt "petit h" Restmaterialien und Produkte mit kleinen Makeln. Da wird schon mal eine Kelly Bag mit einer kleinen Kuckucksuhr verziert, um eine Stelle mit Materialfehler zu kaschieren oder eine riesige Bärenskulptur mit übrig gebliebenem Leder bezogen, um den Luxusmaterialien ein zweites Leben zu schenken. Doch auch dieses Kreativatelier konzentriert sich vor allem auf kunstvolle Einzelstücke, die eher ausgestellt als verkauft werden.

So ist das eben mit Dingen, die etwas Besonderes sind: Sie sind mitunter auch besonders schwer zu verarbeiten. "Natürlich hat man mehr Aufwand, wenn man mit Resten arbeitet", sagt Helle Herman Mortensen. "Du kannst nicht einfach am Schreibtisch eine Farbauswahl treffen. Du musst selbst ins Lager fahren, schauen was verfügbar ist und davon abhängig dein Design entwerfen. Das macht die Sache aber auch sehr interessant."

"Ich denke schon, dass nachhaltige Resteverwertung ein Kaufargument ist."

Gewinnorientiert produzieren sieht allerdings anders aus. Wenn es einfacher, schneller und kostengünstiger ist, Reste zu recyceln oder wegzuwerfen, braucht es andere Gründe, um sich die Mühe zu machen, sie stattdessen zu verarbeiten. Und hier liegt das letzte Wort wie so oft beim Kunden. Wenn der vorbildliche Umgang mit Ressourcen von ihm so sehr geschätzt wird, dass sich der Mehraufwand rechnet, haben Entwürfe aus Resten auch ohne ideelle Subventionen eine Chance. "Ich denke schon, dass nachhaltige Resteverwertung ein Kaufargument ist", so Helle Herman Mortensen.

Doch wirklich erfolgreich können solche Produkte nur sein , wenn es wie bei Herman, Dixon und Co. vor allem um eines geht: das Design. "Für Gestalter zählt es heute zu den wichtigsten Herausforderungen, mit Material verantwortlich und ökologisch umzugehen", sagt auch Nils Holger Moormann. "Allerdings gelingt aus meiner Sicht unter dem Vorsatz der 'Resteverwertung' nur in seltenen Fällen ein originäres, losgelöstes Projekt. Wir versuchen deshalb stets den Weg, Reste von vornherein zu vermeiden." Wie bei seinem legendären Regal FNP, das fast verschnittfrei hergestellt wird. Fast, denn so Moormann: "Wenn das Design darunter leidet, gilt es besonders sorgfältig abzuwägen. Im Zweifel würde ich mich immer fürs Design entscheiden, auch unter dem Aspekt, dass ein hervorragendes Produkt wiederum nicht so schnell zum Abfall und Rest wird."

Um beim Entwerfen mit Ausschussmaterial restlos glücklich zu werden, gilt also die Regel: Der Rest muss in den Dienst des Designs gestellt werden - und nicht umgekehrt.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: