Modernes Nomadentum:Leben to go

Früher fand die Stadtflucht auf dem Campingplatz statt. Heute verziehen sich die Großstädter in schicke Hütten und Container, die dorthin mitwandern, wo es am schönsten ist.

Von Julia Rothhaas

Die Verpackung könnte schlichter nicht sein. Was sich in der weißen Kiste auf der Streuobstwiese verbirgt, das zeigt sich erst, wenn die Außenwand zu Boden fällt, sich die Fenster öffnen und die roten Griffseile gezogen sind, an denen Tisch, Stuhl und Küche hängen. Dann wird aus dem Klotz eine charmante Hütte, die auf wenig Raum alles zu bieten hat, was man für ein Wochenende braucht.

Zwei Menschen haben Platz an dem Klapptisch, der Gaskocher steht sicher in der Schublade, und die Hocker werden passgenau im Holz verstaut. Über die Vertiefungen in der Wand, für Bücher und Kleidung gedacht, krabbelt man in den oberen Teil des Kabuffs, wo ein Schreibtisch steht, und auf der schmalen Zwischenebene können zwei Personen schlafen - vorausgesetzt, sie kommen auf so wenig Raum gut miteinander aus. Nur ein Badezimmer gibt es nicht, was das Ganze dann doch auf das Wohnniveau eines Zelts zurückwirft.

Die "Seelenkiste", ein Projekt des Design-Büros Allergutendinge, ist eine der vielen Ideen für minimales und mobiles Wohnen, die im Buch "The New Nomads" (Gestalten-Verlag) versammelt sind. Auf 220 Seiten werden Konzepte und konkrete Produkte aus Industriedesign- und Architekturbüros weltweit vorgestellt, die alternatives Wohnen in Form von Container, Hütte und Jurte entwickeln, die sich ohne viel Aufwand verpflanzen lassen.

Das Design darf aber gerne außergewöhnlich sein! Wie die Hütte, die aussieht wie ein dicker Felsbrocken, der im Gebirge nicht weiter auffallen soll, und dennoch Schutz bietet vor Unwetter und Kälte. Oder der Wohncontainer aus Beton mit Giebeldach - und das Wohn-Ei , das mit seinen Waben im Inneren an einen Bienenstock erinnert, in denen Platz ist zum Schlafen, Baden und Kochen.

Das Buch bringt damit eine Armada an Großstädtern zum Träumen, die gern stundenlang einsame Hütten in Norwegen und Kanada auf Internetseiten wie cabinporn.com beschaut. Doch das Wochenendhäuschen der Großeltern und die Parzelle auf dem Campingplatz hat ausgedient, heute soll es ein Zuhause auf Zeit sein, das sich mitnehmen lässt an die Orte, an denen sich der Wunsch nach Stadtflucht tatsächlich verwirklichen lässt. Und dazu gehört die Vorstellung, die mobile Hütte genau dort abzustellen, wo es einem gerade gefällt. Auf der Wiese, im einsamen Wald, auf der verwaisten Bergkuppe. Raus aus der Routine, rein in die Ruhe.

Das Nomadenleben soll funktionieren wie ein Laptop: aufklappen und alles da

Dabei möchten wir nicht hausen, sondern wohnen. Wer will heute noch in einem anonymen Hotelzimmer schlafen, wenn er auch eine heimelige Airbnb-Wohnung haben kann? Und so muss das Leben to go, das sich der moderne Nomade wünscht, ähnlich funktionieren wie ein Laptop. Aufgeklappt sollen all die Annehmlichkeiten in reduzierter Schönheit ihren Platz finden, auf die man überall auf der Welt zugreifen möchte. Das bedeutet dann auch: Kein Birkenfurnier an den Wänden, sondern unbehandeltes, duftendes Holz. Keine Plastikgriffe an den Schränken und Schubladen, sondern Schlaufen aus glattem Kalbsleder. Keine Dachluke, sondern bodentiefe Fenster, keine Eckbank, sondern der Eames-Chair. Wenn auch noch das Abwasser die Klospülung übernimmt und die Außenverkleidung aus der Zweitverwertung stammt und der Strom vom eigenen Solarmodul, dann hüpft das Herz des Öko-Hedonisten.

Die Sehnsucht nach Freiheit ist groß, wenn auch nur übers Wochenende. Der 1920 in Prag geborene Philosoph Vilém Flusser schrieb lakonisch: "Wir dürfen von einer gegenwärtig hereinbrechenden Katastrophe sprechen, die die Welt unbewohnbar macht, uns aus der Wohnung herausreißt und in Gefahren stürzt. Dasselbe lässt sich aber auch optimistischer sagen: Wir haben zehntausend Jahre lang gesessen, aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: dass wir jetzt frei sein müssen."

So tragisch ist es nicht. Vor allem wenn sich die Möglichkeit der Freiheit in Formen finden ließe wie bei einigen Projekten in dem Buch. Der Wohnwagen für eine Person etwa, den man sich hinter sein Rad hängt, oder die Sauna als Boot mit Sprungturm. Die schicke Schlafbox am Flughafen, die über jeden verpassten Flug hinwegtrösten könnte, und der aufblasbare Raum in Form einer Wolke, der sich innerhalb von vier Minuten formiert. Einzig die Parkbank, über die sich ein weißer Airbag wölbt für etwas Intimsphäre, wirkt zynisch.

Heute hier, morgen da: Es ist gar nicht der Traum vom Nomadentum als Lebensentwurf, für das sich viele meist kurz nach dem Studium entscheiden, um ein paar Monate vom Strand aus zu arbeiten. Die Sehnsucht nach der Weltflucht auf Zeit ist vielmehr mit dem Wunsch nach einem Rückzugsort verbunden, in dem man sich manchmal verstecken möchte, ohne dafür komplett verschwinden zu müssen.

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