Modedesign:Kleb dir was

Die Schweizerin Vanessa Schindler ist eine gefeierte Nachwuchsdesignerin. Nur Nähen mag sie nicht. Ihre Kleider hält sie mit flüssigem Kunststoff zusammen.

Von Charlotte Theile

Langsam tuckert der Bus vom Bahnhof Lausanne durch die Stadt. Lichterketten, Werbeplakate, dann Wohngebiete, die Gärten werden größer. Das Haus, in dem Vanessa Schindler an ihrer neuen Kollektion arbeitet, liegt am Ende einer Sackgasse im Vorort Renens. Ein Anruf, ja, es sei wahnsinnig kompliziert, ins Atelier zu kommen. Einen Moment später steht sie auf der Straße. Eine junge Frau mit dunklen Locken, weißen Turnschuhen, weiter Jeans. Sie ist ungeschminkt, wirkt unauffällig und beeindruckend ruhig. Eine Nachwuchsdesignerin, die gerade den wichtigen Grand Prix du Jury beim Festival für Mode und Fotografie in Hyères gewonnen hat, stellt man sich anders vor. Vanessa Schindler wurde 2017 auf der Berliner Fashion Week gefeiert, Modezeitschriften fragten sich: "Was macht Vanessa Schindler anders?" Swarovski schickt ihr Kristalle. Gratis, versteht sich. Nun arbeitet die 29-jährige Schweizerin an einem neuen Aufschlag, im März will sie die nächste Kollektion vorstellen. Und beim Hyères-Preis sitzt sie dieses Jahr in der Jury.

Schindler führt durch einen Hinterhof in eine alte Halle, in der Küche einige Dutzend Bierflaschen. "We had a party last night", sagt sie, halb entschuldigend. An den Schreibtischen in der Halle sitzen Freunde von ihr. Grafikdesigner, Architekten, Künstler. Schindlers Bereich liegt am Ende des großem Gemeinschaftsraums, er erstreckt sich über einige Tische und Quadratmeter. Dennoch steht alles eng zusammen. Kleiderständer, ein riesiger Koffer, ein Bügeleisen. Die Kleider der ersten Kollektion, dazu Muster und neue Entwürfe. Es sind faszinierende Stücke, manche fein und durchsichtig, andere aus robuster Wolle oder Fell - dazu ganz normale Baumwollshirts von der Stange. In dem grauen Sweatshirt-Stoff prangen große, mit Plastik ausgekleidete Löcher.

Vanessa Schindler nimmt ein Fotobuch und setzt sich auf eins der abgewetzten Sofas. Die Geschichte ihres unerwarteten Erfolgs ist die einer Abschlussarbeit. Schindler, die aus dem französischsprachigen Westen der Schweiz stammt, studierte in Genf Modedesign. Als sie ihr Studium beenden wollte, brauchte sie eine gute Idee für die letzte Kollektion. Auf aufwendiges Nähen hatte sie keine Lust. Also experimentierte sie mit einem einfachen und zum Glück kostengünstigen Stoff: Urethan. Ein flüssiges Polymer, mit dem man Stoffe zusammenkleben, verformen, verändern kann.

"Ich habe Angst vor den Erwartungen, die jetzt an mich gerichtet werden."

Ob Baumwolle, Fell oder Spitze: Wenn ein Stoff mit dem flüssigen Urethan in Berührung kommt, gibt es eine chemische Reaktion. Mal zerschmelzen die Fasern zu einer Plastikfläche, mal verändert sich der Stoff an sich, wird durchsichtig, glatter oder voluminöser. "Jedes Mal, wenn ich einen Stoff behandelt habe, war das ein Experiment. Ich wusste vorher nicht, wie beide zusammen reagieren würden", sagt Schindler. Wenn das Polymer und der Stoff zusammenkommen, bleiben der Designerin nur wenig Minuten für das, was sie "zeichnen" nennt. Solange das Plastik flüssig ist, kann sie das Kleidungsstück modellieren. Nach etwa einer Viertelstunde ist das Urethan hart, jetzt verändert sich nichts mehr. Und auch wenn Schindler stets von Experimenten mit unklarem Ausgang spricht, müssen diese 15 kostbaren Minuten gut vorbereitet sein.

Wie das Ergebnis an echten Menschen aussieht? Mal schlicht, mal verträumt, oft durchsichtig, immer feminin. Wenn man sich die unterschiedlichen Kleider, Pullover, Mäntel und Handtaschen anschaut, wird klar, dass Schindler ihr Ziel erreicht hat. "Es geht mir um gefrorene Flüssigkeit" sagte sie im Sommer in einem der vielen Interviews.

Jetzt, wo Materialproben auf den Tischen ausliegen und Fotos mit den ersten Entwürfen ihrer neuen Kollektion, klingt Vanessa Schindler zurückhaltender. "Es war ein verrücktes Jahr für mich", sagt sie bei einer Raucherpause im Hof. "Und ich habe Angst vor den Erwartungen, die jetzt an mich gerichtet werden." Ob sie wieder mit Urethan arbeiten wird? Schindler nickt. Es ist ihr Erfolgsmodell - und sie hat noch viele Ideen. "Aber natürlich möchte ich nicht bis an mein Lebensende nur mit Polymer zeichnen." Die neuen Stücke sollen "radikaler" werden, auf keinen Fall soll man ihnen den Druck ansehen. In den letzten Jahren schien alles wie von selbst zu laufen.

Schindler stammt aus einer Gegend, die wie keine andere in der Schweiz für Käse, Schokolade und Sahne bekannt ist. Eine kleine, grüne Welt in der Nähe von Fribourg. Für ihre Ausbildung ging sie nach Paris und Kopenhagen, machte Praktika bei angesehenen Häusern wie Balenciaga und Henrik Vibskov. Und anders als viele, die versuchen, im umkämpften Modedesign einen Fuß auf den Boden zu bekommen, machte Schindler dabei fast ausschließlich gute Erfahrungen. Bei Vibskov in Dänemark sei es zugegangen wie in einer großen Familie, sagt sie und lacht. "Es war wirklich so."

Bei Petit Bateau geht einer ihrer Entwürfe in Serie. Dass sie dafür Geld bekommt, findet sie "cool"

Auch in Renens ist Schindler umgeben von Freunden, immer ist jemand da, der mit ihr Zigaretten dreht, starken Kaffee trinkt und den eigenartigen Kleidern beim Entstehen zuschaut. Natürlich, sagt Schindler, alles wäre einfacher, wenn sie von Paris aus arbeiten würde. Die Zollgebühren, die sie im Moment bezahlt, wenn sie eins ihrer Kleider über die Grenze nach Frankreich schickt, seien "crazy".

Sowieso, das Geld. Auch wenn Schindler von Swarovski Kristalle zugeschickt bekommt, muss sie genau haushalten. Die Kristalle sind nur für den Laufsteg. "Wenn ich etwas verkaufen will, muss ich selber einkaufen." Eigentlich wollte Schindler in der Weihnachtszeit ein paar ihrer Ohrringe verkaufen, Anfragen gab es genug. Doch die Ohrstecker aus Italien kamen nicht rechtzeitig. Bye-bye, Weihnachtsgeschäft. Dafür ist sie mit einem Entwurf für "Petit Bateau" in Serie gegangen, sagt Schindler. "Ich habe heute erfahren, dass ich dafür sogar Geld bekomme. Très cool." Auch der große Koffer hinter den Kleiderstangen zeugt vom Sparwillen: Wenn möglich, versucht sie, Kleider darin zu transportieren. Wenn sie, wie vor der Fashion Week, für einige Tausend Euro professionell verpackt und versandt werden, macht sie das eher nervös. "Das war meine ganze Kollektion. Alles Einzelstücke. Was hätte ich tun sollen, wenn es einen Unfall gegeben hätte?"

Schindler ist jetzt wieder im Atelier, zeigt die Arbeiten ihrer Freunde. Sie trinkt Leitungswasser, wie alle hier. Trotzdem hat sich durch den Erfolg des vergangenen Jahres etwas verändert. Vanessa Schindler hat jetzt eine Assistentin, "eine Freundin", wie sie sofort nachschiebt, die ihr bei den organisatorischen Dingen hilft. "Auf einmal muss ich Lohn zahlen", sagt sie nachdenklich. "Das ist stressig und aufregend. Aber ich fühle Freude in meinem Herzen, dass es möglich ist."

Ob sie in den nächsten Jahren in Renens bleiben kann? Schindler nimmt noch einen Schluck Wasser. "Ich würde gerne. Das sind ja meine Freunde hier. Es wäre sehr cool." Wahrscheinlich ist es nicht.

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