Mode:Kunst? Kommerz? Ihr könnt mich mal

Hedi Slimane für Yves Saint Laurent

Von Kritikern geächtet, von Kunden geliebt: Hedi Slimane, neuer Chefdesigner von Yves Saint Laurent.

(Foto: Getty Images)

Es ist wie bei hochgelobten Romanen oder Debutalben: Was Modekritiker begeistert, hängt of wie Blei an den Bügeln der Boutiquen. Oder andersherum, wie der neue Chefdesigner von Yves Saint Laurent beweist.

Von Silke Wichert

In diesen Tagen reiben sich einige Leute in der Modebranche die Hände. Ein paar andere rümpfen die Nase. Und einer sitzt irgendwo in Los Angeles und denkt vielleicht: "Ihr könnt mich alle mal. Ich hab's sowieso besser drauf als ihr."

Über kaum eine Kollektion wurde in den letzten Jahren so viel diskutiert und hergezogen wie über die erste von Hedi Slimane als Chefdesigner von Yves Saint Laurent. Im Vorfeld hatte der 44-Jährige die Modelinie des Hauses unter großem Geschrei mal eben in "Saint Laurent" umbenannt und das Atelier von Paris - mon Dieu! - zu seinem Wohnsitz nach Kalifornien verfrachtet. Und genau so sahen die Entwürfe, die er vergangenen Oktober präsentierte, dann auch aus: Als hätte da jemand den alten Yves mitsamt seinem Le Smoking unter harte Aufputschmittel gesetzt und ins Nachtleben von L.A. gezerrt.

Weil so viel Feiern nicht gut für den Teint ist, trugen fast alle Models tief ins Gesicht gezogene Filzhüte. Old Bohemien meets Glam Rock. Die Kritiker waren entsetzt bis beleidigt: zu unelegant, zu wenig Neues, zu kommerziell für ein Luxuslabel, schrieben die einen. Das habe, wie die Moderedakteurin des Guardian urteilte, so gar nichts mit der realen Welt da draußen zu tun.

Derweil sind die Sachen in den Läden angekommen, und es zeigt sich: Offensichtlich hat das neue Saint Laurent sogar sehr viel mit der Lebenswelt einer bestimmten Kundin zu tun. Der Chefeinkäufer von Barney's New York jubelte vor Kurzem in der New York Times, schon jetzt seien fast zwei Drittel der Kollektion vergriffen, das Zeug fliege geradezu aus den Regalen. Und auch die deutschen Einkäufer sind hocherfreut. "Endlich mal jemand, der uns versteht", sagt Emmanuel de Bayser, Inhaber der Boutique TheCorner in Berlin. "Gefragt ist bei den Frauen immer noch sexy oder cool. Das hier ist: beides!"

Überteuerte Kassenschlager

Er hat mehrere Looks der Saint-Laurent-Kollektion prominent im Eingangsbereich auf Puppen drapiert, aber wohl nicht mehr lange. Die Tunika-Kleider mit dem goldenen Leoprint - fast alle weg. Die High Heels, die Victoria Beckham irgendwo getragen hat - schlagartig ausverkauft. Von der roten Bikerlederjacke - nur noch eine übrig. Und das, obwohl sogar de Bayser zugibt, dass das neue Saint Laurent trotz ach so toller Verarbeitung ein bisschen überteuert sei. Die Lederjacken kosten knapp 3000 Euro, eine schwarze Seidentunika fast 1000 Euro. Aber wenn ein Teil nun mal unbedingt gekauft werden muss? Ist die Kundin schmerzbefreit.

Da wäre sie also wieder, die "press-retail-divide", wie sie in der Branche genannt wird, die Kluft zwischen Kritik und Registrierkasse. Kritiker sind, wie in der Kunst oder Musik, auch in der Mode dazu da, eine Einschätzung als Orientierung für ihr Publikum abzugeben. Aber Experten können daneben liegen. Und in der Mode geht die alte Garde der Zeitungs- und Fachjournalisten offensichtlich mit anderen Maßstäben an die Materie heran als es die Einkäufer mittlerweile tun. Leute wie Suzy Menkes von der International Herald Tribune oder Cathy Horyn von der New York Times wollen immer noch ein bisschen Avantgarde sehen, Bezüge herstellen, die Inspiration hinter einer Kollektion entschlüsseln. Die Einkäufer suchen schlicht etwas, das auch der Kunde kapiert.

Schönes Beispiel: Isabel Marant. Die Französin macht seit gefühlten zehn Saisons nichts anderes als enge Hosen zu sexy Oberteilen und kurze Kleider mit Kastenjacken, mal Ethno, mal Cowboy, mal mit Hippie-Verzierung. Wenn so eine Kollektion überhaupt in den Zeitungen besprochen wird, dann mit "very true to brand", was so viel heißt wie: "Mir fällt zu dem Zeug einfach nichts mehr ein." Im Verkauf hingegen ist Marant ein Dauerbrenner. "Die Sneakers mit verstecktem Plateau sind bei uns immer noch sofort ausverkauft", sagt Justin O'Shea, Chefeinkäufer von mytheresa.com. "Selbst wenn wir davon noch mehr einkaufen könnten, wären sie im nächsten Moment wieder vergriffen."

Trends in Hochgeschwindigkeit

Wohl gemerkt ein Schuh, der sich nahezu unverändert in der fünften Saison befindet. Und 395 Euro kostet. Oder die bedruckten Logo-Sweatshirts von Kenzo, die für eine kritische Auseinandersetzung viel zu banal wären, aber in den Streetstyleblogs rauf und runter gefeiert wurden. Bei TheCorner erblickten sie nie das Licht der Ladentheke, die Menge der Vorbestellungen war immer schon größer als die nächste Lieferung. "Ich hätte sie wirklich gern mal ins Fenster gehängt", sagt de Bayser, "aber keine Chance."

Hedi Slimanes Vorgänger bei Yves Saint Laurent, der Italiener Stefano Pilati, kam bei den Modekritikern mit seinen unterschwellig-erotischen "Belle de Jour"- Looks eigentlich immer ganz gut weg. Hier arbeitete sich jemand respektabel an den Codes des Hauses ab, was jedoch hinterher - nach seinem Abgang kann man es ja sagen - wie Blei an den Bügeln hing. "Mit Taschen und Schuhen haben wir immer gute Umsätze gemacht, aber die Kleider? Die haben unsere Kundinnen nicht einmal angefasst", sagt Emmanuel de Bayser. "Da haben sie lieber gleich ein Kleid von Lanvin gekauft."

Auch Justin O'Shea bestätigt vorsichtig, dass - Pilati in allen Ehren - die Resonanz nun "ungleich größer" sei. Acht Jahre immerhin schaute man sich das beim Mutterkonzern PPR an, dann wurde Pilati gefeuert und Hedi Slimane geholt, eigentlich ein Herrendesigner, der mit seiner ultraschmalen Silhouette für Dior Homme bekannt wurde, aber offensichtlich ein Genie, wenn es darum geht, Trends und Aufmerksamkeit zu generieren. Etwas, das in der Mode immer wichtiger wird, auch wenn "kommerziell" für viele immer noch ein Schimpfwort ist.

Eine Kollektion wie mit dem Vorschlaghammer entworfen

"Im Grunde haben uns die Journalisten mit ihrer Aufregung einen Gefallen getan", sagt O'Shea. "Alle reden darüber, der Hype ist grenzenlos." Das mache die Identität der Marke noch stärker, und genau das brauche es heute. "Die Mode dreht sich immer schneller, die Konkurrenz ist riesig. Wenn jemand viel Geld für ein Teil ausgibt, will er wenigstens sicher sein, dass sofort erkennbar ist, was für ein tolles Stück er sich da geleistet hat." Bei YSL unter Pilati sei der Wiedererkennungswert häufig etwas dürftig gewesen. Bei Slimanes Rock-Chic? Wie mit dem Vorschlaghammer entworfen. Die Herbstkollektion ganz im Zeichen des Grunge-Rocks, über die mancher Redakteur in der Show laut gelacht haben soll, dürfte sogar noch einprägsamer sein. Ein einziger modischer Ohrwurm.

Natürlich gibt es auch Kollektionen, bei denen sich Presse und Einkäufer absolut einig sind. Alexander McQueen ist so ein Fall, Valentino, und natürlich Céline. Seitdem Phoebe Philo für das Label entwirft, werden ihre Entwürfe Saison für Saison zum Maß aller Dinge erklärt, die Taschen sind Bestseller, die minimalistische Mode die perfekte Uniform für die, wie Einkäufer es nennen, "intellektuell anspruchsvolle Kundin". Und die diesen Sommer bislang gefragteste Marke bei mytheresa.com? Überraschung: Kritikerliebling Dries van Noten. "Kein Teil war länger als ein paar Tage auf der Webseite erhältlich", sagt O'Shea, selbst ein bisschen erstaunt. Das Thema: Grunge Deluxe, viel Karos, siehe Saint Laurent für nächsten Herbst.

Wie in einer riesigen Blumenvase

Über Kassenflops dagegen reden Einkäufer verständlicherweise nicht so gern, aber spätestens im Sale sieht man ja, was hängen geblieben ist. Bei mytheresa.com war ausgerechnet Marc Jacobs eine Zeit lang ein "Underperformer". "Er entwirft jede Saison etwas wirklich Einmaliges, er ist immer wegweisend", sagt O'Shea. Dummerweise war das dann manchmal ein bisschen zu schwer nachvollziehbar für die Endkundin. Der letzte Sommer - bescheiden. Aber der aktuelle Sixties-Look, die Streifen in schwarz-weiß - das versteht sie wieder!

Vielleicht erinnert sich die eine oder andere an den Sommer 2010, in dem der "Utility Chic" von Chloé in den Magazinen gefeiert wurde. Die khakifarbenen Shorts mit den abgewandelten Trekkingsandalen und diesem wirklich hübschen Pfadfinder-Cape dazu. Ein Ladenhüter. Abgesehen von Accessoires lief das Label überhaupt nicht, sagt Emmanuel de Bayser. "Was in den Magazinen gezeigt wird, hat für den Verkauf meist null Relevanz." Am Ende nahmen manche Einzelhändler die Sachen nur noch auf Kommission, als seien es unbekannten Jungdesigner-Labels.

Aber in der Mode wird ja glücklicherweise von Saison zu Saison neu gemischt, und es ist längst so, dass auch Top-Designer Abverkaufslisten vorgelegt bekommen; ob sie sie dann berücksichtigen oder nicht. Bei Chloé jedenfalls läuft es wieder, seit die Rüschen- und Spitzentops zurück sind. Nicolas Ghesquière, unbestritten einer der talentiertesten Designer unserer Zeit, schuf für Balenciaga die kreativsten Kollektionen. De Bayser, selbst großer Bewunderer, kaufte auch viele avantgardistische Teile ein, "die man eben unbedingt im Laden haben will". Aber was er hinterher verkaufte war zu 60 Prozent "Lederjacken, Lederleggings und Strick". Ende letzten Jahres musste Ghesquière gehen. Was zeigte der neue Designer Alexander Wang in seiner ersten Kollektion für das Haus für nächsten Herbst? Viel Leder, viel Strick.

Und wie läuft es beim neuen, alten Jil Sander? Unter Raf Simons war das Label etwas für mutige Modefans geworden, die ein Teil ihres Idols wie ein Kunstwerk besitzen wollten. Tragbarkeit spielte hier nur eine untergeordnete Rolle. In den neonfarbenen "Must have"-Maxiröcken aus dem vorletzten Sommer jedenfalls sahen Normalsterbliche aus, als würden sie gerade in einer riesigen Blumenvase ertrinken. Jetzt, mit Jil Sander, spreche die Marke wieder die Kundin an, die "schlichte Teile in erstklassiger Verarbeitung" sucht, heißt es bei mytheresa. "Zu steif, zu kastig, zu teuer", urteilt hingegen de Bayser in Berlin. "Das geht bei uns nur noch im Sale weg." Für nächsten Herbst hat er nicht mehr geordert. Dabei waren die Kritiken größtenteils begeistert.

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