Macht der Produktbilder:Lippenstift-Porno

Sie wollten immer schon mal sehen, wie es in den Badezimmern der Mode-Prominenz aussieht? Dann googeln Sie mal "Into The Gloss". Dort verraten hochkarätige Autoritäten aus der Branche ihr hochkomplexes Pflegeverhalten.

Verena Stehle

Kosmetikprodukte

Schönheitspflege wird gerade zelebriert wie eine Messe.

(Foto: Illustration: Bernd Schifferdecker)

Würde man dieses ganze Geschnatter im mittlerweile millionenfach angeklickten Kosmetik-Blog "Into The Gloss" mal auswerten und eine Liste der am wärmsten empfohlenen Schönheitstricks erstellen, dann würde "No Poo" sehr weit oben stehen.

"Poo" ist eigentlich ein Begriff aus dem englischen Kleinkindwortschatz, die deutsche Übersetzung lautet "Kaka". Darum geht es zum Glück nicht beim Beautytrend "No Poo". Aber das, was jetzt kommt, ist auch nicht viel anmutiger: No-Poo-Anhänger verzichten auf Shampoo, ja auf Haarewaschen überhaupt. Über Wochen, manchmal sogar über Jahre. Eben: No Sham-Poo. Sie machen das Haar nur nass und geben am Ende ein wenig Arganöl (zum Beispiel von "Morrocanoil" aus der türkis-braunen Glasflasche!) in die Spitzen, damit es nicht verfilzt - oder rattenmäßig stinkt. No Poo wird auch von Orlando Pita praktiziert, jenem kubanischen Celebrityfriseur, der Schauspielern wie Gwyneth Paltrow für 800 Dollar die Spitzen schneidet.

Und das Ergebnis sieht natürlich amaaazing aus. Wenn man erst mal die etwa sechswöchige Ekelperiode hinter sich hat, verwandeln sich die Zotteln offenbar in die traumhafteste, hollywoodmäßigste Mähne, weil die Haarfollikeln . . . sparen wir uns die Details. Klingt total krank, oder? Andererseits: Wer weiß besser Bescheid als Leute, die sich tagtäglich nur mit dem Erhalt von Schönheit und Jugend beschäftigen? Denn genau das tun die Experten von "Into The Gloss". Oder auch "ITG" - ausgesprochen: aitieetschiieeh - wie die Hardcore-Fans den Blog nur noch nennen.

Kosmetikblogs gibt es schon länger. Aber bislang waren die meisten weder professionell noch lesbar. Jedenfalls war es nur schwer auszuhalten, wenn irgendeine Dani oder Andrea unter dem Titel "Diorella" über Glitzerlidschatten aus dem Drogeriemarkt philosophierte. Bei "Into The Gloss" werden ausgesucht makellose Berühmtheiten oder Autoritäten aus der Modewelt zu ihrem hochkomplexen Pflegeverhalten und ihren Lieblingsprodukten protokolliert, ihrer "Beauty-Routine", wie es heutzutage heißt.

Sowieso wird Schönheitspflege gerade zelebriert wie eine Messe. Die britische Vogue hat in ihrer aktuellen November-Ausgabe ein Stück über die Renaissance des Schminktischchens, das ja physiognomisch durchaus Ähnlichkeit hat mit einem Heiligenschrein. Und ITG gilt momentan sogar als noch spannender und neuer, als Berliner Galeristen ins Wohnzimmer zu gucken oder Promis beim alljährlichen Kürbiseinkauf in Los Angeles zu betrachten, wie man es in anderen Blogs gerade tun kann. Vor allem lernt man bei ITG was dazu. Wie man trockene Winterhaut pflegt, beispielsweise. Und wie man in zehn Jahren zwei Jahre jünger aussieht, vielleicht.

Promis anzapfen für den Beautyblog

Die Erfinderin von ITG ist Amerikanerin und heißt Emily Weiss, sie gründete den Blog im September 2010, nachdem sie sieben Jahre lang bei Hochglanztiteln des Condé-Nast-Verlags gearbeitet hatte, beispielsweise als Modeassistentin bei der amerikanischen Vogue. Weiss begleitete Stylistinnen zu Modewochen, bei Werbekampagnen-Shootings und Modestrecken-Produktionen von New York über Los Angeles bis nach Dubai, und irgendwann hatte sie logischerweise nicht mehr nur Luxusklamotten im Gepäck, sondern auch alle privaten Handynummern der berühmten Stylisten, Fotografen, Make-up-Künstler und Models. Über die sie zu den noch berühmteren, schätzungsweise noch verschlosseneren Insidern gelangte: Kinder aus Mode-Dynastien, wie Julia Restoin-Roitfeld und Annabelle Dexter-Jones. Deren reiche Jetset-Freundinnen Schrägstrich Designerinnen wie Gaia Repossi. Beautyikonen wie Dita Von Teese. Sowie die feinen alten Damen der Mode, Iris Apfel und die unlängst verstorbene Anna Piaggi. Aber auch hippe Jungs, wie der Designer Olivier Rousteing von Balmain oder der schwedische Parfumeur Ben Gorham.

Sie alle und noch viele mehr zapfte Weiss für ihren Beautyblog an. Weiss protokolliert ihre Interviewpartner, schreibt ihre Antworten als Monolog runter, was sich dann so liest, als würde man bei ihnen zu Hause im Badezimmer auf dem runtergeklappten Klodeckel sitzen, während sie sich vor dem Spiegel fertigmachen und dabei alles rausplappern, was ihnen gerade durch die Rübe rauscht.

Mehr als 66.200 Besucher verzeichnet der Blog pro Monat, und im Grunde war er von Anfang an ohne Konkurrenz - online wie offline. Erstaunlich, dass im Internet bisher noch niemand auf die Idee gekommen war, aus den Beautygeheimnissen von Berühmtheiten ein Business zu machen - oder eben: einen journalistischen Blog mit derart hochkarätigen Testimonials. Modemenschen und Kosmetikprodukte - den Erfolgscocktail versuchen etliche Blogger gerade schnellschnell zu kopieren. Aber es wird wohl in naher Zukunft keinem gelingen, so viele coole Mode-Socken zum Geheimnisseausplaudern zu bringen wie Emily Weiss. Zumal ITG noch eine Geheimzutat hat: besonders durchgeknallte Beautyrituale, siehe "No Poo". Und gerade die diffizilen, teilweise etwas affigen Pflegepraktiken, die man sich in der manisch eitlen Branche über die Jahre angeeignet hat, sind natürlich amüsant.

Jede einzelne Pore wird ausgedrückt

So ist es in Fachkreisen offenbar Usus, sich einmal pro Woche jede einzelne Pore ausdrücken zu lassen, igitt. Eine Stylistin klettert jedes Mal, wenn sie in Paris weilt, in ein Gerät namens "Iyashi Dome", das aussieht wie eine Kernspinröhre. Drinnen wird der Körper durch Infrarotstrahlung entgiftet, es sei sehr heiß, sagt sie, und man schwitze sehr viel - lesen wir das kurz auf der Iyashi-Dome-Website nach: in 30 Minuten etwa so viel wie nach 20 Kilometern Dauerlauf ... Die berühmte Modefotografin Inez van Lamsweerde derweil, die auffallend volles, langes Schneewittchenhaar hat, wirft über die Wintermonate vorsorglich Viviscal-Pillen ein, ein Präparat gegen Alopezie, Haarausfall.

So geht es bei ITG fröhlich weiter: Das Model mit dem strahlendsten Zahnpastalächeln der Branche, Karlie Kloss, verwendet eine "magische" 3D-Whitening-Zahnpasta. Und die erfolgreichste aller schwedischen Modebloggerinnen, Elin Kling, verplappert sich hinsichtlich einer Sache, die eigentlich unter die Blondinen-Schweigepflicht fällt: Sie sei gar nicht naturblond. Überhaupt: Kein Schwedenblond sei angeboren, alle Schwedinnen hätten diese matten, champagnerfarbenen Highlights.

Soso! Wen haben wir da noch? Ah, die nicht wahnsinnig berühmte, aber dafür wahnsinnig figurbewusste amerikanische Schauspielerin Piper Perabo. Sie frühstückt jeden Morgen gekochten Lachs mit Gemüsebeilage und Tee - gut gegen Heißhungerattacken - und trinkt ihr Mineralwasser nur noch mit Chlorophylltropfen. Die verwandeln das Wasser zwar in eine schwarze Brühe, hydrieren aber den Körper und machen, dass der Schweiß besser schmeckt. Nun - wer sich ebenfalls für eine neue Geschmacksrichtung interessiert: Das Zeug gibt es über Amazon.

Gesichtspflege als Religion

Es ist fast so etwas wie religiöser Eifer, den man da spürt bei "Into The Gloss". Besagte Elin Kling jedenfalls gibt zu Protokoll, ihre Gesichtspflege sei ihre Religion. Und was haben die zitierten Experten bei all ihren Geheimtipps gemeinsam? Sie ernähren sich gesund, machen mindestens fünfmal die Woche Sport, sie rauchen nicht oder selten, und sie wohnen in Apartments mit Badezimmern, in denen es aussieht wie in der Kosmetikabteilung von Bergdorf Goodman. Auf ihren Schminktischchen oder vor ihren aufklappbaren Badezimmerspiegeln werden die Produkte neben frischen Blumen, Hello-Kitty-Kontaktlinsendöschen und opulenten Schmuckkästchen regelrecht inszeniert.

Vielleicht ist der Wind in der High Society tatsächlich so rau, dass man bis zu vierzehn Produkte täglich braucht, um die eigene Haut geschmeidig zu halten. Was man jedenfalls wirklich überall sieht: Gesichtsreiniger von "derma-logica", das Beautyelixir von "Caudalie", Körperbutter von "Kiehl's", Creme von "Embryolisse", den goldenen Abdeckstift von "Yves Saint Laurent", Highlighter von "Nars", Nagellacke von "Chanel" oder der Berliner Marke "Uslu Airlines" ...

Der Blog ist überhaupt verdammt hübsch aufgemacht. Die Fotos haben die gleiche Ästhetik wie die Softporno-Motive von Modefotograf Terry Richardson - mit dem Emily Weiss natürlich auch schon gearbeitet hat. Ein Lippenstift, sogar blaue Wimperntusche sehen bei "Into The Gloss" sexy aus. Zumal in dieser übersexualisierten Zeit das Badezimmer die letzte Bastion der Intimität ist.

Schon immer hat sich die Welt für die Schönheitstricks der berühmten Schönen interessiert. Nicht umsonst erzählt man sich bis heute, dass die ägyptische Königin Nofretete in Eselsmilch badete und Marilyn Monroe jeden Morgen zwei rohe Eier in einem Glas warmer Milch verquirlte - und trank. Generationen von Müttern oder Redakteurinnen gaben diese Mythen an nachfolgende Generationen weiter, viel Neues kam nicht dazu. Denn es ist noch gar nicht so lange her, dass die Menschen nur ungerne zugaben, dass gutes Aussehen ein knochenharter Job ist.

Im Internetzeitalter hingegen verkündet man stolz, dass man einmal pro Monat eine "Blue-Print-Cleanse"-Diät machen muss, um in Jeansgröße 25 zu passen oder dass man früher heftigst Akne hatte. Offenheit lautet die neue Devise. Aus genau dem Grund soll Botox übrigens, zumindest unter Modeleuten, schon wieder total out sein. Julia Restoin-Roitfeld nennt kosmetische Eingriffe sogar "betrügen", und van Lamsweerde zitiert ein befreundetes Supermodel der Neunziger, Christy Turlington, mit den Worten: ,,Wenn du das alles machst, dann weißt du nie, wie du aussehen wirst, wenn du alt bist ... "

Emotionale Verbindung zu Kosmetikprodukten

Laut einer aktuellen Studie der renommierten US-Beratungsfirma The Beauty Company - Kunden sind Dior, Johnson & Johnson und Nestlé - halten Frauen die Investition in ihre Schönheit für sinnvoll und notwendig, ja sie haben sogar eine tiefe, emotionale Verbindung zu ihren Kosmetikprodukten. Manch ein "Into-the-Gloss"-Fan, der auf der Seite Kommentare hinterlässt, will demnächst unbedingt mal nach Florenz fahren. Nicht etwa wegen der Kathedrale Santa Maria del Fiore und den berühmten Kutteln in der Semmel, sondern wegen einer alten Apotheke namens Santa Maria Novella, in der Rockstartöchter Parfums und Seifen kaufen.

Am wenigsten ernst zu nehmen sind auf dem Blog die von Weiss ebenfalls interviewten "Markenbotschafterinnen" wie Milla Jovovich oder Carolyn Murphy. Sogenannte Ambassadore, die sich wohl vertraglich dazu verpflichtet haben, bestimmte Marken zu nennen, sobald sie den Mund aufmachen. L'Oréal! Estée Lauder! Chanel, Chanel, Chanel! Immerhin erinnern diese Lesestücke immer wieder daran, dass die Webseite eben doch nicht mehr ist als eine sehr, sehr animierende Werbeseite.

Nicht Beauty-Routine, sondern Beauty-Regime müsste der Fachbegriff lauten, bei all der Plackerei, die diese Leute durchziehen. Das gegenwärtige Ideal übrigens, also das, worauf alle hinarbeiten, ist die kindlich unverbrauchte Schönheit einer Brooke Shields im Film "Die Blaue Lagune". Oder auch der natürliche Look des Models Daria Werbowy in der aktuellen Céline-Anzeige, wo sie ein bisschen aussieht wie eine Sechstklässlerin, die sich gerade mit der Papierschere die Haare geschnitten hat. Emily Weiss zapfte auch den deutschen Superstarfotografen an, der das Model für genau diese Céline-Kampagne abgelichtet hatte - den übrigens nicht makellos aussehenden Juergen Teller.

Beauty, in seinen Augen? "Oh, ich mache gar nichts. Ich bin einfach hübsch."

Und das verstehen eben nur die ganz alten Hasen: Schönheit ist relativ. Wer absolut umwerfend wirken will, der muss einfach auch mal die Klappe halten.

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