Interview:"Die Seele des Ortes zählt"

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Er entwirft Waschbecken, Hotels und ganze Siedlungen: Matteo Thun, einer der wichtigen Gestalter Europas.

Interview von Christine Mortag

Wahrscheinlich ist jeder schon einmal mit einem Produkt von Matteo Thun in Berührung gekommen. Als Designer hat er Espressotassen für Illy entworfen, Armbanduhren für Swatch, Toiletten, Waschbecken, Vasen und Bürostühle. Als Architekt ist der 63-jährige Südtiroler aber mindestens genauso umtriebig. Sein erster Entwurf war Anfang der 90er-Jahre ein Fertighaus für die Firma Griffner, mittlerweile sind Hotels wie das "Side" in Hamburg dazugekommen oder die "City of Wood", eine komplette Reihenhaussiedlung in Bad Aibling. Zuletzt hat er sich in der Lagune von Venedig eine ganze Insel vorgenommen und dort einen Hotelkomplex restauriert, der im Juli eröffnet wurde.

SZ: Angenommen, ich würde Sie engagieren. Wie sähe das Haus für eine vierköpfige Familie im Münchner Süden aus?

Matteo Thun: Das müssen Sie mir sagen. Ich als Architekt bin nur die Hebamme. Bevor ich überhaupt anfange, würde ich zunächst einmal Ihre Dialogfähigkeit testen.

Aha, ein Bewerbungsgespräch?

Genau. Ihre Frage stellte sich mir vor etwa einem Jahr. Ich sollte ein Haus für eine Familie in München entwerfen. Das Projekt ist nicht zustande gekommen, weil die Beteiligten sich nicht einig waren, was sie wollten. Die Frau will oft etwas anderes als der Mann, und wenn man dann noch die Kinder fragt, wollen die naturgemäß wieder etwas anderes. Solange es da keinen Konsens gibt, ist es sinnlos, mit dem Entwurf zu beginnen. Am Ende wäre keiner zufrieden, höchstens ihre Ehe im Eimer.

Wenn diese Fragen geklärt sind, wie gehen Sie weiter vor?

Dann beginnt für mich der schönste Teil meiner Arbeit. Ich schaue mir die Umgebung an. Wie ist die Landschaft, welche Bäume wachsen dort, welches Gestein gibt es? Mein Bestreben ist es, mit den Materialien zu arbeiten, die vor Ort vorhanden sind. Es ist die Seele des Ortes, die über die Architektur bestimmt, nicht der Architekt. Ich komme gerade aus dem Apennin, wo wir in den Bergen nach Steinen gesucht haben, um daraus in einem Dorf ein Heim zu bauen, in dem mittellose Mütter mit ihren Kindern die Ferien verbringen können.

In Venedig hat nach Ihren Plänen gerade ein Luxusresort eröffnet. Was war da die Seele des Ortes?

Luxus bedeutet im Fall des "JW Marriott Venice" nicht vergoldete Wasserhähne, sondern Rückkehr zur Natur. Venedig ist weitgehend zugebaut. Bäume sieht man dort nur selten. Die meisten Hotels haben weder Garten noch Grünflächen. Das ist bei diesem Hotelkomplex anders, er befindet sich auf der Isola delle Rose, der größten der über hundert Inseln in der Bucht von Venedig. Ende des 19. Jahrhundert wurde sie für landwirtschaftliche Zwecke genutzt, es gab einen Weinberg, Olivenhaine, Obst - und Gemüsegärten. Bevor wir 2011 mit dem Projekt begannen, wurde das ganze Areal fast 50 Jahre nicht mehr genutzt.

Was haben Sie mit dem Komplex gemacht?

Aus Respekt vor der Geschichte des Ortes haben wir die Fassaden der 19 Gebäude renoviert, in ihrem äußeren Erscheinungsbild jedoch so gelassen, wie sie waren. Die Innenräume wurden nach dem 'Box in the box'- Prinzip modernisiert. Man muss sich das so vorstellen, als würde man einen Kasten in eine alte Hülle setzen. In dem neuen Innenraum kann man dann Wände einziehen, Leitungen verlegen, sanitäre Anlagen einbauen, ohne auf das alte Gemäuer Rücksicht nehmen zu müssen.

Bestehendes zu erhalten, ist das die Zukunft des Bauens?

Wenn die Substanz erhaltenswert ist, unbedingt. In den 60er-Jahren gab es allerdings einen architektonischen Blackout. Bedingt durch das schnelle Wirtschaftswachstum, wurde in dieser Zeit sehr schlecht und unüberlegt gebaut, es entstanden schlimme Bausünden wie zum Beispiel asbestbelastete Gebäude und Betonmonster. Das versucht man nun, rückgängig zu machen und Altstadtkerne zu revitalisieren. Instandsetzen ist auf jeden Fall besser als diese austauschbare Allerweltsarchitektur, die einem zur Zeit vor allem in Deutschland begegnet.

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(Foto: N/A)

Thuns Arbeiten sollen haptisch überzeugen, so wie das neue JW Marriott Hotel auf der Isola delle Rose vor Venedig.

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(Foto: N/A)

Das Waldhotel Bürgenstock am Luzerner See.

Alle reden über Nachhaltigkeit, ist der Begriff nicht langsam überstrapaziert?

Grauenhaft, ja, die Amerikaner reden längst von "Greenwashing". Für mich ist der Begriff vollkommen redundant, ein Pleonasmus. Denn für einen Architekten sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, ökologisch und nachhaltig zu bauen. Wer das nicht macht, ist kein Architekt.

In Bad Aibling haben Sie eine Reihenhaussiedlung ganz aus Holz realisiert. Die Häuser sind schlicht, was Sie damit begründeten, dass Normalität die ultimative Nachhaltigkeit sei.

In Amerika wird moderne Ästhetik längst mit dem Begriff The New Normality umschrieben. Je zeitloser, je normaler Sie bauen, desto mehr verschieben Sie das ästhetische Verfallsdatum nach hinten. Ein Haus, das nicht auffällt, können Sie problemloser wieder verkaufen als ein spektakuläres, das nicht jedermanns Geschmack ist.

Was ist ein gutes Beispiel für gelungene Architektur?

Am Viktualienmarkt in München gibt es ein fantastisches Hotel, das Hotel Louis. Das ist so zeitlos gebaut, das hat kein ästhetisches Verfallsdatum.

Matthäus Antonius Maria Graf von Thun und Hohenstein - in was für einem Haus sind Sie aufgewachsen?

Da Sie den Adelstitel schon erwähnen, wird es Sie vielleicht nicht wundern, dass das Haus kein Haus war, sondern ein Schloss, in Südtirol. Mit sehr hohen Räumen und Böden aus kaltem Marmor. Ich erinnere mich vor allem an diese fürchterliche Kälte im Winter. Als Kind spielt man ja am liebsten auf dem Boden, aber das durfte ich nicht. Sie promovierten in Architektur, wurden aber zunächst als Designer erfolgreich. Warum der Umweg?

Auch den Wasserhahn für Fantini hat Thun entworfen. (Foto: N/A)

Ich hatte mich bei einigen Architekturbüros beworben, wurde aber überall abgelehnt. Ich musste feststellen, dass ich von dem, was ein Architekt praktisch können sollte, keine Ahnung hatte. Schließlich bekam ich die Möglichkeit, ein Praktikum bei einem Architekten in New York zu absolvieren. Da stand ich die nächsten sechs Monate in einem Vorraum der Toilette und kopierte die Entwürfe des Meisters.

Wer hat Ihren Stil am meisten geprägt?

Das beginnt mit meinen Eltern, die mich mit vier Jahren zum ersten Mal auf die Biennale nach Venedig mitnahmen. Und ich schwöre, ich habe seitdem keine einzige verpasst. Kunst ist der Dünger für jeden Kreativen. Die Disziplin des Sehens habe ich von Oskar Kokoschka, meinem Lehrer an der Kunsthochschule, gelernt. Und dann kam Ettore Sottsass mit der eisernen Disziplin eines ganzheitlichen Genies.

Mit ihm gründeten Sie 1980 die Gruppe Memphis und entwarfen buntes, ziemlich durchgeknalltes Design.

Wir hatten es damals so satt, dass die Auftraggeber, die Industrie immer nur graue, langweilige und funktionale Produkte von uns wollte. Sottsass sagte dann, wenn die Auftraggeber uns nicht machen lassen, wie wir wollen, dann machen wir uns unsere Produkte selber und entwerfen Dinge, die allen bisherigen gestalterischen Regeln widersprachen. Natürlich auch eine Provokation gegen die Prinzipien des Bauhaus.

Aber Bauhaus ist doch der Inbegriff der Vereinfachung.

Würde nie für sich selbst bauen: Architekt und Designer Matteo Thun, 63. (Foto: N/A)

Der Bauhaus-Stil hat die DNA Deutschlands, das Erscheinungsbild, die Architektur und das Design auf sehr positive Weise geprägt. Aber das dogmatische Wiederkäuen des Bauhaus-Prinzips "Form follows function" führte zu einer eklatanten De-Emotionalisierung. Wenn immer nur die Funktionalität erste Priorität hat, entstehen Produkte, die ergonomisch und funktional einwandfrei sind, nur: die Seele berühren sie nicht. Jedenfalls nicht meine. Nehmen Sie zum Beispiel den Wecker von Braun, längst eine Design-Ikone. Der klingelt mich zwar zuverlässig aus dem Schlaf, er lässt mich den Tag aber nicht gerade mit guter Laune beginnen.

Das sieht Dieter Rams, der Designer, vermutlich ganz anders.

Ja, das sieht er sogar ganz anders. Wir hatten ihn 1980 zur Eröffnung der ersten Memphis-Ausstellung eingeladen. Er lehnte ab. Und als ich ihm später bei seiner Ausstellung im Frankfurter Architekturmuseum die Hand reichen wollte, zog er seine sehr schnell zurück.

Was war Ihr größter Fehler?

Vieles beginnt mit besten Absichten und erst hinterher stellt es sich als nicht so positiv heraus. Anfang der 90er-Jahre war ich Creativ-Director bei Swatch. Markenuhren waren damals noch recht teuer und ich war besessen von der Vision, etwas zu entwerfen, das sich jeder leisten kann. Von unternehmerischer Seite ist das damals bestens aufgegangen, aber heute würde ich aus nachhaltigen Überlegungen bei einem Massenprodukt nicht mehr auf Plastik setzen.

Wie sieht denn Ihr ideales Haus aus?

Der Bau eines Privathauses ist an sich schon eine heikle Angelegenheit, aber für mich selber könnte ich überhaupt nicht bauen. Das überlasse ich vollkommen meiner Frau Susanne. Manchmal komme ich nach Hause und erkenne mein Heim nicht mehr, weil sie alles umgeräumt oder Wände gestrichen hat. Es gibt nur eine einzige Bedingung: Es kommt mir kein Matteo Thun-Objekt ins Haus. Daran hält sie sich seit über 30 Jahren.

© SZ vom 22.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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