Fotografie:Die Welt als Vorstellung

Fratelli Alinari in Florenz sind das älteste fotografische Unternehmen der Welt. Wer etwas über das grundlegende Wesen der Bilder lernen will, ist an diesem Ort richtig.

Von Thomas Steinfeld

In der Via Nazionale, nicht weit vom Florentiner Bahnhof, steht ein großes, altes Wohnhaus mit einer Tordurchfahrt. "F.lli Alinari. Istituto di Edizioni Artistiche" ist darüber auf einem Schild in goldenen Lettern auf schwarzem Grund zu lesen. "Gebrüder Alinari. Institut für Kunstpublikationen". Im Hinterhaus geht es dann zwei Treppen hinauf und eine hinunter, durch Korridore und Türen, bis man in einer fensterlosen Kammer steht. Dutzende Leinen sind in wechselnder Höhe, aber stets parallel gespannt. Hölzerne Klammern hängen daran, von derselben Art, wie man sie beim Trocknen von Wäsche benutzt. In den hölzernen Boden sind vier eiserne Roste eingelassen, vermutlich, um warme Luft zuzuführen. Wüsste man nicht, dass in diesem Hinterhaus eine fotografische Werkstatt untergebracht ist, käme man schwerlich darauf, wofür diese Kammer diente und manchmal immer noch dient: zum Trocknen von Papierabzügen, wie man sie verwendete, als man Bilder noch entwickeln, fixieren und wässern musste.

Es gibt ein bekanntes altes Bild von Haus, Toreinfahrt und Namensschild. Es wurde um das Jahr 1900 aufgenommen und zeigt, dass die Fratelli Alinari einst die gesamte Anlage nutzten: In den Schaufenstern rechts und links des Torbogens, dort, wo heute ein Uhrmacher und eine Eisdiele zu Hause sind, hängen Fotografien in der Auslage, und auf dem Balkon über dem Schild sind die stolzen Besitzer zu sehen. Man könnte noch einmal fünfzig Jahre zurückgehen, und die Firma wäre immer noch am selben Ort zu finden. Denn die Fratelli Alinari sind das älteste noch bestehende fotografische Unternehmen der Welt: gegründet im Jahr 1852, gut zwei Jahrzehnte nachdem der französische Erfinder Joseph Nicéphore Niépce zum ersten Mal ein Bild auf eine Zinnplatte hatte bannen können und dreizehn Jahre nachdem in Gestalt der Daguerreotypie ein fotografisches Verfahren auf den Markt kam, mit dem sich eine praktische, kommerzielle Nutzung verbinden ließ.

Es mag viele Gründe dafür geben, dass die Firma Fratelli Alinari noch immer besteht. Mit einem Grund indessen hat auch jene Trockenkammer zu tun: denn je älter die Fotografie wird, und je offensichtlicher es wird, in welchem Maße sie ästhetische, künstlerische Qualitäten besitzen kann, desto deutlicher wird auch, dass fotografische Bilder eine physische Existenz, einen Körper besitzen - und dass dieser Körper zu einer Fotografie gehört wie die Leinwand zu einem Gemälde.

Die Pauschalreise entstand zur selben Zeit, als sich die Fotografie professionalisierte

Die Fratelli Alinari verdanken ihre Entstehung dem Tourismus - oder genauer: der allmählichen Verwandlung der "Grand Tour", der obligatorischen Bildungsreise für die jungen nordeuropäischen Aristokraten und ihre Nachfolger unter den bürgerlichen Reichen, in ein zunehmend populäres Unternehmen: Die Pauschalreise entstand zur selben Zeit, als sich die Fotografie professionalisierte, und beide Ereignisse gehören eng zusammen.

Denn es trifft ja nicht zu, dass Reisen grundsätzlich der Erweiterung des persönlichen Horizonts dient, der Begegnung mit dem Neuen und Unbekannten. Vielmehr geht es beim Reisen mindestens ebenso sehr um die Bestätigung von Erwartungen: Die zu besichtigenden Orte sind immer schon auf einem imaginären "Itinéraire" verzeichnet, mitsamt einem Katalog der aufzusuchenden Kulturschätze und Naturdenkmäler sowie stets begleitet von Bildern, die dem Reiseplan ein festes Gesicht geben. Seit jeher dient die Fotografie dazu, das Außerordentliche und Überraschende für die persönliche Erinnerung festzuhalten. Doch sie hat noch eine ganz andere Aufgabe: zu bestätigen, dass man sich an diesem durch Schrift und Bild bekannten Ort tatsächlich aufgehalten hatte. Und dass es dort tatsächlich so aussieht, wie man es von den einschlägigen Veröffentlichungen her erwarten konnte.

An allen Stationen der "Grand Tour" gab es daher, beginnend in den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts, fotografische Unternehmungen wie die Fratelli Alinari - wobei es diese Firma schnell durch technisches Geschick und systematische Bewirtschaftung interessanter Orte wie Florenz, Venedig, Mailand, Rom und Neapel zu beachtlicher Größe brachte. Kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert waren dort zwanzig, wenn nicht dreißig Fotografen beschäftigt. Und auch wenn es damals schon Rollfilmkameras gab, arbeiteten die Professionellen doch mit Platten - und das bedeutete: Gestelle, Gehäuse, schweres Gerät.

In einem Nebenraum des Hinterhauses in der Via Nazionale steht noch ein hölzerner Karren, wie sie die Fotografen damals brauchten, um mit ihrer Ausrüstung von Kunstdenkmal zu Kunstdenkmal zu gelangen. Im Haus selber muss es damals, wie alte Fotografien zeigen, ein großes Studio gegeben haben, komplett mit großen, nach Norden gehenden Fenstern, in denen sich die Reisenden vor eigens herbeigeschleppten (künstlichen) Säulentrümmern und Palmen fotografieren lassen konnten. Und die Künstlichkeit dieses Arrangements ist kein Widerspruch zur Behauptung, man sei tatsächlich vor Ort gewesen, sondern dessen Vollendung: denn auf Fiktionen beruht diese Technik der Vergewisserung von vornherein. Die Imitation eines echten Renaissance-Throns, die damals als Requisite diente, findet sich noch in einer Ecke.

Im Archiv der Fratelli Alinari sind die alten Fotografien, die Negative wie die Abzüge, in hohen Regalen gestapelt - liegend, weil so der Kontakt mit der Luft vermindert wird: "Höchstens fünf Kilogramm Last" steht auf einer Plakette auf den Regalflächen. Mehrere Hunderttausend historische Fotografien müssen in diesem Lager verwahrt sein, und hinzu kommen noch, auf andere Weise verwahrt, einige Millionen, die in späteren Stadien der Fotografie hinzukamen, sich also der Kleinbildkamera oder, jüngst, der digitalen Technik verdanken. Dabei sind es immer wieder die ältesten Aufnahmen, die das größte Interesse auf sich ziehen: der Platz vor dem Palazzo Vecchio in Florenz, die Uffizien, die überbaute Brücke über dem Arno; die Piazza San Marco in Venedig, der Palazzo Ducale, die Seufzerbrücke; der Mailänder Dom, das Kolosseum in Rom, und der Blick über den Golf von Neapel hinüber zum Vesuv. All die Motive, die heute fotografiert werden, millionenfach, zogen auch damals den fotografischen Blick auf sich.

Doch je gründlicher man diese Kontinuität bedenkt, desto drängender stellt sich ein Zweifel ein: Wie, wenn das, was man heute kennt und sieht, nur deshalb so aussieht, weil es seit mehr als 150 Jahren diese Art der Fotografie gibt? Wie, wenn das Original der Welt von heute eine Fotografie wäre, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts von einem Fotografen der Fratelli Alinari aufgenommen wurden? Wie, wenn die wirkliche Welt, in all ihrer Zerbrechlichkeit und Veränderlichkeit, damals verschwunden wäre, worauf seitdem nur noch Kopien von Kopien zirkulieren - weil die Kulturdenkmäler exakt in dem Zustand erhalten und restauriert werden, den sie auf alten Fotografien besitzen?

Die historischen Fotografien kommen einem solchen Verdacht entgegen. Das liegt vor allem daran, dass so wenige Menschen auf ihnen zu sehen sind. Wie leer die Vergangenheit gewesen sein muss, denkt sich der Betrachter heute, und dann überlegt er sich, ob sie tatsächlich so war oder in dieser Leere arrangiert wurde - aber der Eindruck, damals habe man ganz allein vor Michelangelos David stehen können, bleibt zurück. Und nicht nur dieser: Damals, denkt man sich, hätten die historischen Gebäude noch richtig ausgesehen, ohne die Autos und den ganzen Klimbim der Gegenwart. Andererseits dienten eben diese Fotografien vereinsamter Gebäude, Denkmäler und Naturschönheiten der Werbung.

Neben dem Archiv gibt es noch ein Labor, eine Werkstatt, einen Verlag und zwei Museen

In den Archiven der Fratelli Alinari werden einige Alben aus dem späten 19. Jahrhundert aufbewahrt, schwere, in rotes Leder gefasste buchförmige Schatullen, in denen der fotografische Ertrag einer Italienreise gesammelt wurde, um nach der Rückkehr in das Heimatland bei Gesellschaften herumgereicht zu werden und zu neuen Reisen zu animieren. Mehrere Tausend Euro kostete, in heutigem Geld gerechnet, ein solches Album des Reisestolzes - während die Einheimischen diese Bilder mit Misstrauen betrachteten, dokumentierten sie doch ein Land, das in seine Vergangenheit eingeschlossen war wie eine Fliege in Bernstein. Immerhin wurde in einem solchen Album (und in den dazugehörigen Bildern) ein neues Italien sichtbar, eine einige Nation, wie sie 1861 geschaffen worden war.

Im Jahr 1920 verkaufte Vittorio Alinari, der Sohn eines der Gründer, die Firma mitsamt Archiv und Marke an ein eigens geschaffenes Konsortium, zu dem sich Florentiner Unternehmer, Intellektuelle sowie die lokale Bank zusammengeschlossen hatten. Daraus entstand das (nicht gewinnorientierte) Kulturunternehmen, das die Firma Fratelli Alinari heute noch ist. Die historischen Bilder kann man dort immer noch erwerben (obwohl die Bestände digitalisiert sind), abgezogen von den originalen Platten und hergestellt mit denselben Techniken, die im 19. Jahrhundert verwendet wurden. Neben dem Archiv betreiben die Fratelli Alinari ein Labor zur Restaurierung historischer Fotografien, eine Werkstatt für Lichtdruck, in der Kunstdrucke hergestellt werden, einen Verlag und zwei Museen - eines in Florenz, das gegenwärtig wegen einer offenbar langwierigen Restaurierung geschlossen ist, und eines in Triest.

Eine Fotografie, erklärte vor fast hundert Jahren der Journalist, Soziologe und Philosoph Siegfried Kracauer, stelle einen Gegenstand nicht nur dar. Sie nehme ihn auch in Besitz, und mehr noch: Sie dringe in ihn ein. Was Wirklichkeit ohne Bilder gewesen sei, verwandele sich in eine Wirklichkeit in Bildern. Wie recht Siegfried Kracauer mit dieser Behauptung hatte, lässt sich an den Bildern der Fratelli Alinari erkennen: Es gibt kein historisches Italien ohne diese Fotografien.

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