Fashionspießer zu Carmen-Blusen:Achtung, Brust über Bord

Als wären schulterfreie Carmen-Blusen nicht schon schlimm genug, weil sie ständig hochgezogen werden müssen, bekommen sie diesen Sommer auch noch jede Menge Stoff.

Von Jana Stegemann

"Wie konnten wir nur so lange ohne diese Verführungskünstler leben?", fragt die Bunte in ihrer aktuellen Ausgabe. Nein, es geht nicht um die Kandidaten der neuen Bachelorette-Staffel, sondern um Blusen. Blusen, die aus blassen Mitteleuropäerinnen sexy Spanierinnen machen sollen - so zumindest die Theorie der Carmen-Bluse, die neudeutsch auch als Off-the-Shoulder-Bluse/Top firmiert. Off-Shoulder-Scheußlichkeit wäre treffender.

Das französische Modehaus Yves Saint Laurent hat uns den Fauxpas eingebrockt. 1976 befand der Meister höchstpersönlich, dass es jetzt auch außerhalb von Andalusien Zeit für Carmen-Kram sei. 2016 verantworten unter anderem das australische Label Ellery und Stella McCartney eine neue Scheußlichkeit: Flamenco-Pants, die aussehen wie Clownshosen. Bei den Ready-to-Wear-Schauen - dort soll eigentlich tatsächlich Tragbares präsentiert werden - waren andalusische Folklore-Klamotten omnipräsent. In pervertierter Form.

Denn schulterfreie Blusen und Kleider kommen nicht mehr nur mit Gebausche und Geraffe daher. Für diesen Sommer plusterten die Designer die ohnehin schon wenig kleidsamen Teile noch ordentlich auf und nähten ihnen voluminöse Volant-, Flügel- und Trompetenärmel an. Ganz vorne mit dabei die Kreativen von Tibi, Monse und Rosie Assoulin. Das zahlt auf das große Sommerthema Volumen ein. Ist aber für die Silhouette von Frauen denkbar ungünstig. Abgesehen von den Oliva Palermos, Gigi Hadids und Alessandra Ambrosios dieser Welt.

An dieser Stelle muss dringend Guido Maria Kretschmer zitiert werden: "Diese Carmen tut nichts für dich." Das möchte man den meisten Trägerinnen zwischen Kiel und Passau zurufen. Wer mehr als nur A-Körbchen hat, läuft Gefahr, von modefernen Mitbürgern zu hören: "Brust über Bord."

Die Carmen-Bluse, das seltsame Konstrukt

Außerdem, so rät die Fachpresse, ziemt sich darunter höchstens ein trägerloser BH oder am besten nix. Für alle, die nicht auf den BH verzichten wollen oder können, bleibt noch das Off-the-Shoulder-Top mit Trägern, die sogenannte Cold-Shoulder-Version. Das führt die Idee von der "rassigen Spanierin" dann endgültig ad absurdum und ist sexy mit angezogener Handbremse. Trägerinnen, die ihre nackten Schultern zeigen, aber sich ansonsten mit Unmengen von Stoffwust umgeben, passen perfekt in die Generation derer, die sich alles ein bisschen trauen, aber nichts richtig.

Trotzdem ist das Grauen in Stoffform mit den ersten heißen Tagen nicht mehr ausschließlich auf Instagram zu sehen, sondern auch in der Realität. Deshalb an dieser Stelle ein Hinweis: Auf andalusischen Volksfesten - hier hat der Carmen-Ausschnitt seinen Ursprung - sind Kleider und Blusen mit diesem Ausschnitt wunderbar, weil passend. Sonst: nicht.

Die Dinger sind unpraktisch, die Trägerin ist die meiste Zeit mit hochziehen beschäftigt und für Büros und Kirchen denkbar ungünstig gekleidet. So eine Carmen-Bluse ist generell ein seltsames Konstrukt. Sie will Bluse sein und schulterfrei. Das ist wie schicke Jogginghosen, Mäntel ohne Ärmel und Turnschuhe mit Absätzen. Es funktioniert einfach nicht.

Was damals übrigens mit der berühmtesten Carmen passierte? (Nicht die aus der Telenovela, sondern die aus der Oper.) Im vierten Akt ersticht ausgerechnet Don José seine Geliebte. Jedoch nicht wegen ihrer Bluse. Das immerhin lässt hoffen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: