Fashionspießer zu Achsel-Dekolletés:Platz da, hier kommt der Trizeps

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Freiheit für die Achseln! Das neue Dekolleté trägt man seitlich. (Foto: Daniel Hofer)

Eigentlich sind Dekolletés heikel und hochpolitisch. Das gilt aber nicht für Rücken-, Steiß- und Zehen-Ausschnitt - oder das Achsel-Dekolleté. Was steckt dahinter, wenn wohlgeformte Arme aus riesigen Löchern ragen? Eine Verschwörung? Oder der Anbeginn einer Revolution? Eine Modekolumne.

Von Lena Jakat

Dekolleté. Das klingt nach Chic, nach Sex und womöglich zweifelhaftem Ansinnen. Und im Berufsleben wird schon mal umgerechnet: Kragentiefe = - Kragenweite. Je tiefer der Ausschnitt, desto weniger tiefgreifend die Kompetenz, heißt es gerne.

Das Dekolleté ist seit Anbeginn politisch - vor Jahrhunderten war es den adeligen Damen vorbehalten, zwischen Taille und Hals Haut zu zeigen; das Fußvolk hatte sich zu bedecken. Heute haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Einflussreiche Frauen in Wirtschaft und Politik entblößen nur selten die Stelle unterhalb des Schlüsselbeins und tun sie es doch, haben sie sogleich eine Debatte am Hals.

Wie gut, dass es noch andere Dekolletés gibt, die nicht ganz so heikel sind. In diesem Sommer reckt sich uns überall ein ganz besonderes Exemplar entgegen: das Achsel-Dekolleté. Fitnessstudiogeformte, schlanke Mädchenarme, die aus riesigen Löchern ragen. Weite Shirts, die orientierungslos vorne und hinten am Körper herumschlabbern, seitlich nur noch von schmalen Stoffstreifen zusammengehalten. Der Brustansatz bleibt in diesem Fall bedeckt, schon, weil das windige Leibchen sonst endgültig auseinanderfallen würde.

Inspiriert wurden diese übergroßen Armlöcher wohl durch die Shirts der US-Basketballer. Doch auch die unsportlichsten Teenager greifen mitunter verzweifelt zur Schere, um den beklemmenden Armausschnitt von Standard-Hemdchen zu weiten. Ihr Ziel: Freiheit für alle Achseln! Frischluft für eingesperrte Rippen! Platz da, hier kommt der Trizeps!

Unbedingt gewollte Einblicke

Aus den überdimensionierten Armlöchern schreien dann häufig Bandeau-Tops oder neonfarbene BHs hervor: Schau, hier bin ich, kannst du mich sehen? Sie erfüllen beim Achsel-Dekolleté dieselbe Funktion wie einst die eingravierten Wegweiser beim Steißdekolleté: Sie erst machen das Dekolleté zum Dekolleté, betonen: Dieser Einblick wird natürlich völlig beiläufig gewährt, ist aber doch unbedingt gewollt.

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Wir tragen Bürzelblusen mit Poposchürze, laufen eingepackt wie Polarforscher durch die Stadt und legen uns meterlange Schalschlingen um den Hals. Warum nur? Aktuelle Modetrends, aufgespießt in der wöchentlichen Kolumne.

Nun gibt es ja auch Dekolleté-Varianten, die durchaus ihre traditionelle Berechtigung haben. Das Rückendekolleté zum Beispiel, insbesondere bei Abendkleidern. Und sein Äquivalent, das Zehendekolleté. Anzutreffen in Peeptoe-Schuhen. Sexy, elegant, weltläufig, stilsicher.

Aber das Achsel-Dekolleté? Warum? Warum sollte ich Löcher tragen, mit denen ich ständig an Türklinken und anderen Personen hängen bleiben kann? Löcher, die zum Verhängnis werden, sobald ich mich setzen will (weil die gewährten Einblicke - eigentlich nur stehend vorteilhaft - sich sitzend in ungeliebte Regionen ausweiten)? Durch die ich also in der Folge Rückenschmerzen durch dauerhaftes Stehen bekomme und zudem vereinsame, weil alle anderen sitzen? Und, ihr Achseldekolletierten da draußen, habt ihr euch schon mal gefragt, ob das nicht alles eine große Verschwörung der Einwegrasierer- und Bandeautopindustrie ist? Denkt mal drüber nach.

Warum das Achsel-Dekolleté gut ist

Einen Grund, das Achsel-Dekolleté zu befürworten - und solche Zugeständnisse finden sich an dieser Stelle nicht allzu oft - gibt es. Und damit ist nicht die zwangsläufige Abwesenheit von Schweißflecken gemeint. Die Achsel ist eine der wenigen Körperstelle, die modeversessene Menschen beiderlei Geschlechts entblößen - egal, ob darunter haarlose Hühnerbrüste oder pinke Büstenhalter zum Vorschein kommen. Egal eben, ob Mann oder Frau. Ein geschlechtsneutrales Dekolleté. Das ist doch mal was! Das ist doch ein Anfang. Vielleicht ja von was ganz Großem.

Vielleicht könnten wir uns darauf einigen, von nächstem Sommer an einfach alle Shirts zu tragen, die am Hals tief ausgeschnitten sind? Wenn Jan Hofer in ein paar Jahren mit tiefem V-Ausschnitt die Nachrichten verliest und Peer Steinbrück seine Bestandsaufnahme zum Kita-Ausbau im herzdekolletierten Top verkündet, vielleicht erledigt sich die ermüdende politische Dekolleté-Debatte dann ganz von alleine?

War vielleicht doch ein bisschen viel Sonne.

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