Fashion Week Paris:So viel Gutes hat man lange nicht gesehen

Fashion Week Paris: Mode ist immer dann stark, wenn sie etwas auszulösen vermag. Kleider von der Pariser Modewoche für Frühjahr/Sommer 2017: Manish Arora, Maria Grazia Chiuri für Christian Dior und Dries Van Noten.

Mode ist immer dann stark, wenn sie etwas auszulösen vermag. Kleider von der Pariser Modewoche für Frühjahr/Sommer 2017: Manish Arora, Maria Grazia Chiuri für Christian Dior und Dries Van Noten.

(Foto: pr, Getty Images (2))

Die Mode stehe kurz vorm Kollaps, heißt es. Auf der Pariser Fashion Week ertappt man sich beim Gedanken: Ist alles womöglich gar nicht so schlimm, wie alle immer sagen? Eine Bilanz.

Von Tanja Rest, Paris

In der aktuellen Ausgabe des Kulturmagazins 032c steht ein Text, der es lohnt, ins Deutsche übersetzt zu werden. Es ist ein Text über den Designer Jonathan Anderson, er beginnt so:

"Wir nähern uns dem Abgrund. Wir drehen langsam durch. Wir wollen unsere Prä-Dot.com-Aufmerksamkeitsspannen zurück. Wir wollen unsere Prä-Crash-Wirtschaften zurück. Wir fühlen uns atomisiert, an unsere Bildschirme gekettet und abgekoppelt von unseren Identitäten. Wir sind gereizt und isoliert, zunehmend unfähig, zu anderen oder uns selbst Verbindung aufzunehmen. In jedem Moment werden wir analysiert, synchronisiert, entschlüsselt und ausgebeutet. In unserem Horror sehen wir zu, wie Maschinen uns kopieren. Wir fühlen uns gefangen in einer Produktionsspirale. Wir sind das Produkt geworden."

Das wäre also das Gefühl im Herbst 2016, in der westlichen Welt im Allgemeinen, in der Modewelt ganz besonders. Nichts könnte es besser illustrieren als eine Szene aus der Show des Inders Manish Arora.

Ein außergewöhnlicher Designer, er taucht seine Kleider in alle Farben des Regenbogens. Besprengt sie mit Herzchen, beträufelt sie mit Schmucksteinen, flutet sie mit den überschwänglichsten Stickereien, er macht das seit Jahren so. Es kümmert ihn einen Dreck, dass die Sachen nahezu untragbar sind. Auf seinem Runway laufen alle, die sonst nicht zugelassen sind, Alte, Kleine, Dicke, Normale. Der Mann aus Indien jubelt die Botschaft, dass das Leben schön ist und gefeiert werden muss, dem Pariser Publikum sehr nachdrücklich ins Ohr.

Alles wird immer schneller und perverser

In der Front Row von Manish Arora sitzt an diesem Tag eine Frau im 1500-Euro-Kleid von Hervé Léger, der Stoff straff um den Körper bandagiert. Es ist eine jener Frauen, wie man sie hier häufig sieht: Sie benutzen die Mode als Trichter, der die Blicke auffängt und bündelt. Die auf den eigenen Körper treffenden Blicke sind sinnstiftend. Während die Show an ihr vorüberjubelt, packt die Léger-Frau in Reihe eins ihr Handy und filmt sich selbst, dann postet sie das Video auf Instagram. Man schaut betreten hin und denkt: Ist es das, wofür die Mode heute steht? Ist es das, was sie aus uns, den Konsumenten, gemacht hat - Produkte?

Reißschwenk hinüber ins Unesco-Gebäude zu Jonathan Anderson. Mit 32 gilt er immer noch als Wunderkind of Fashion, obwohl er seit drei Jahren das spanische Lederlabel Loewe veredelt, noch länger mit seiner eigenen Marke Triumphe feiert und aktuell als Nachfolger von Nicolas Ghesquière bei Louis Vuitton gehandelt wird. Er ist ganz gewiss keiner, der eine Botschaft vor sich her trägt, so, wie Vivienne Westwood seit Jahren Venedig rettet (wenn auch bisher ergebnislos, leider). Anderson ist ein Alphatier, er kämpft auf der Seite der Sieger. Und kommt folgerichtig bei dieser Kollektion an:

Meeresrauschen, auf dem Laufsteg Organik. Leinen, Leder, grobe Baumwolle in Erdfarben. Die Kleider sind stellenweise wie unfertig, die Nähte ungesäumt, mit heraushängenden Fäden. Ein Patchwork-Kleid wurde aus unzähligen verwaschenen Flicken zusammengenäht, von einer Bikerjacke bröckelt das Leder. Weil Anderson aber gleichzeitig die Trends bedient - die überlangen Ärmel, das von einem Gürtel gebändigte Volumen - ist das Ergebnis hinreißend modern und elegant. Slow Fashion, nach der sich das Publikum unverzüglich verzehrt.

Dann implodiert der Markt. Dann ist es vorbei.

Wie passt diese Kollektion zur Endzeitstimmung der Mode im Jahr 2016? Zusammenfassung: Alles wird immer schneller und perverser. Kollektionen fluten nicht nur innerhalb von Millisekunden das Netz. Sie werden jetzt auch schon vom Laufsteg weg verkauft. In Windeseile haben die Käufer wieder Langeweile und brauchen neuen Stoff. Das System bricht zusammen. Designer brechen zusammen. Aus Kreativität wird Kommerz. Die Intervalle zwischen Konsum und Langeweile werden kürzer. Irgendwann kann der Stoff unsere innere Leere nicht mehr füllen. Dann implodiert der Markt. Dann ist es vorbei.

Die Mode, wie man sie bisher kannte: In ihrer eigenen Erzählung ähnelt sie den in Eisquadern eingefrorenen Blumengestecken, die auf Dries Van Notens Laufsteg langsam vor sich hin schmelzen. In Schönheit erstarrt, zum Sterben verdammt. Aber so ist es ja nicht. Denn was dann kommt, ist lebendig. "Ich war so guter Laune, als ich die Kleider entworfen habe, ich musste mich ein bisschen bremsen", sagt der Designer.

In seinen Kollektionen gibt es einen immerwährenden Dialog zwischen Disziplin und Übertreibung, Purismus und Dekor, männlich und weiblich. Der erste Look: helle Shorts zum weißen T-Shirt. Auf diese blanke Leinwand malt er nun nach und nach die für ihn typischen Farben und Formen, Bomberjacken, Anzugwesten, viktorianische Krägen, aufwendige Stickereien und die leuchtend bunten Blumen, die er in seinem berühmten Garten bei Antwerpen pflanzt und hegt. Der Mann ist in seinen Kleidern gewissermaßen zu Hause.

"Es fühlt sich an wie ein Befreiungsschlag"

Dries Van Noten macht keine Werbung und keine Zwischenkollektionen, er ist immer noch unabhängig und lauscht jede Saison tief in sich hinein. Er operiert höchst egozentrisch am Rande des Systems. Aber wenn es in Paris einen Namen gibt, auf den die Leute drinnen im System sich einigen können, so ist es seiner.

Nun die Überlegung: Ist alles womöglich gar nicht so schlimm, wie alle immer sagen? Nicht mal so schlimm, wie man selbst immer sagt? Den Buy-now-Trend vom Laufsteg weg hat in Paris kein einziges Haus mitgemacht. Man traut der Kundin zu, sich sechs Monate zu gedulden, bis sie die Klamotte in die Finger kriegt. Man traut ihr auch zu, sich den Kopf zu zerbrechen - und oft sind es gerade die sperrigen, nicht-kommerziellen Kollektionen, die hier rückhaltlos gefeiert werden. Ja, das Wachstum der Luxusbranche hat abgebremst, aber für eine neue Firmenzentrale und eine Show in Cinemascope reicht es bei den meisten immer noch. Ja, der Wandel ist permanent und rasant. Aber nicht immer zum Schlechteren.

Fashion Week Paris: Haider Ackermann, Jonathan Anderson für Loewe und Demna Gvasalia für Balenciaga (v.l.)

Haider Ackermann, Jonathan Anderson für Loewe und Demna Gvasalia für Balenciaga (v.l.)

(Foto: Getty Images)

Von den drei männlichen Kreativchefs, die ihre Posten zuletzt geräumt haben, sind in dieser Saison zwei durch Frauen ersetzt worden. Bouchra Jarrar hat bei Lanvin ein vielversprechendes Debüt hingelegt, Maria Grazia Chiuri bei Dior ein umstrittenes, aber irre couragiertes. Mit Chloé, Céline, Sonia Rykiel und Hermès sind nun mehr als eine Handvoll Pariser Modehäuser gestalterisch in weiblicher Hand.

Es ist das späte Erwachen einer Branche, die jahrzehntelang zugelassen hat, dass Frauenkleidung allein von Männern ersonnen wurde - ein Wahnsinn, wenn man erst mal drüber nachdenkt. "We should all be feminists": Das hat Maria Grazia Chiuri auf ein Christian-Dior-T-Shirt drucken lassen, und es fühlt sich an wie ein Befreiungsschlag. Wenn nun noch die gespensterhaft dürren Mädchen von den Laufstegen verschwinden und nur die normal Dünnen übrig bleiben könnten: Das wäre ein weiterer Fortschritt.

Und noch etwas: Ja, die beiden Luxusgiganten LVMH und Kering teilen den Großteil der Marken und des Umsatzes unter sich auf. Aber auch außerhalb ihres Zugriffs gibt es Karrieren. Geschichten wie die der 34-jährigen Mönchengladbacherin Marie-Christine Statz, die ihr lässiges Label Gauchère in der achten Saison im Off-Programm präsentiert, inzwischen sechs Mitarbeiter hat und Einkäufer aus Tokio, Paris, New York. Oder Simon Porte Jacquemus: ein junger Franzose, Autodidakt, lange Zeit kaum beachtet. Alles fängt bei ihm mit einem weißen Hemd an, wird dann dekonstruiert und reine Poesie. Gerade hat sein Umsatz die Fünf-Millionen-Euro-Latte gerissen. Oder, in einem noch mal ganz anderen Maßstab, Demna Gvasalia.

Seit Jahren hat der Puls der Branche nicht mehr so heftig ausgeschlagen wie beim Anblick seiner "Vetements". Man sieht die Sachen überall. Nicht nur in der Front Row. Auch auf den Laufstegen der anderen. Motto-Shirts, Patchwork-Jeans, Hünenschultern, aberwitziges Volumen. Das Label ist stilbildend und so kochend heiß, dass die Auftaktkollektion gerade neu aufgelegt wird - nach drei Jahren.

Irritation nach der Show von Balenciaga

Doch das System schläft nicht. Geschmeidig hat es den Revoluzzer an die Spitze eines seiner funkelndsten Luxushäuser befördert: Balenciaga, im Besitz der Kering-Gruppe. Ein genialer Schachzug von CEO François-Henri Pinault, im Shop an der Rue Saint Honoré sprühen die Kreditkarten seither Funken. 3950 Euro für ein riesiges verschnittenes Blümchenkleid? So what! Es ist erst die zweite Show des Deutsch-Georgiers für Balenciaga und schon eines der begehrtesten Tickets von Paris.

Die Reise geht nach Porte de la Villette in den Pariser Nordosten. Kein anderes Luxuslabel traut sich hier heraus. Gvasalia lässt nicht nur namenlose Amateure über den Laufsteg staksen: Er mutet seinem Publikum auch zu, an dem Elend der Banlieue vorbei zu stolzieren wie Pfauen im Slum. Das sind krasse Bilder, die drinnen in der Mehrzweckhalle zwischen weißen Couture-Vorhängen noch lange nicht enden. Es eine Freakshow, im Kern.

Grotesk überdehnte Silhouetten. Gesichter wie aus einem Almodóvar-Movie. Hautenge Fetischstiefel bis rauf zum Hintern, gelackt, mit wegkippenden Stiletto-Absätzen, auf denen die Nicht-Models mehr humpeln als laufen (zwei Stürze). Über den Stiefeln: aufblasbare Steppwesten zu Schluppenblusen und quadratmetergroße Jacketts mit spitz auskragenden Schultern, als stecke der Bügel noch drin. Die Handtaschen sind groß wie Koffer.

Die Gewaltigen der Branche, vollzählig versammelt, erleben einen Moment totaler Irritation. Ist das schön? Oder furchtbar? Wer um Himmels willen soll das tragen? Dann greift ein jahrelang eingeübter Mechanismus: Sie klatschen das Gesehene nieder und befinden es mehrheitlich für großartig.

Rührung, Konfettikanonen

Mode ist immer dann stark, wenn sie etwas auszulösen vermag. Sei es Befremden wie bei Balenciaga, oder auch etwas viel Leichteres, Heiteres. Clare Waight Keller hat das backstage bei Chloé am Beispiel ihrer Volantkleider erklärt, die mit Blumen in Braun, Gelb, Orange bedruckt waren wie in den Siebzigern die Wachstischtücher. "Wir alle kennen dieses Muster aus unserer Kindheit", sagt Keller, "ich wollte es unbedingt verwenden. Es gibt mir so ein gutes, warmes Gefühl." Bei Sonia Rykiel marschieren 13 Mädchen in schwarzen Strickpullis auf, jede einen großen, bunten Buchstaben auf der Brust, und am Ende steht da: "RYKIEL FOREVER", eine Hommage an die vier Wochen zuvor verstorbene Gründerin des Hauses; Rührung, Konfettikanonen.

Bei Haider Ackermann wummern die Bässe, die Haare der Models sind zu Stacheln gegelt. Unter schmalen schwarzen Bikerjacken glimmen die Metallicstoffe wie Juwelen. Eine ganz fremde Schönheit, zart und kriegerisch - "Paradiesvögel auf Acid", wie Ackermann das backstage nennt. "Es hat mich umgehauen", sagt Tilda Swinton, "ich dachte wirklich, ich schwebe." Genau so war es.

So lange solche Kleider entworfen, bejubelt und, ja, am Ende auch gekauft werden, ist einem um die Mode nicht bang. Schlüpfen wir also in ein butterblumengelbes Rüschenkleid, addieren ein Jackett mit Powerschultern, stellen uns auf unsere Pornostiefel und schreiten wir frohen Mutes voran.

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