Essen zu Silvester:Raclette-Republik Deutschland

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In Millionen deutscher Haushalte wird an Silvester fettiger Käse geschmolzen. (Foto: dpa)

Jedes Jahr an Weihnachten und Silvester schmilzt das halbe Land Käse auf einem Elektrogrill. Ist das der Inbegriff der Gemütlichkeit oder einfach nur spießig?

Ein Pro und Contra von Elisa Britzelmeier und Oliver Klasen

Pro: Probiers mal mit Gemütlichkeit

Für manche Dinge braucht es einen besonderen Anlass. Die Hochzeit etwa, für die man ein neues Kleid kauft. Der Urlaub, für den man sich ein Buch besorgt. Oder eben Silvester, damit es endlich wieder Raclette gibt. Das könnte man zwar eigentlich das ganze Jahr über essen, man tut es nur viel zu selten, so wie die meisten Dinge, die Spaß und das Leben ein bisschen besser machen.

Raclette hält die Wohnung warm und die Tischgesellschaft zusammen. Es verbindet die Feiernden sogar noch besser als sein Bruder, das Fondue. Denn beim Raclette muss nicht vorher überlegt werden, ob es auch eine Version für Vegetarier gibt, die sind von vornherein mit eingeschlossen. Und selbst Veganer werden glücklich, Pflanzen-Käse sei Dank.

Schon bevor alle in Eintracht beieinander sitzen, werden in der Küche Paprika und Zucchini geschnibbelt, so lernen sich auch die Cousine und der Studienfreund kennen. Raclette verbindet Menschen fast so gut wie Alkohol, das kennen vor allem diejenigen, bei denen es das Gericht auch an Weihnachten gibt. Denn wenn die Großtante mal wieder über "die vielen Flüchtlinge" diskutieren will oder der Opa nicht versteht, warum es keine "anständigen Frauen" mehr gibt, kann man einfach quer über den Tisch nach dem Mais fragen oder anmerken, dass der Raclette-Grill wohl zu heiß eingestellt ist. Oder man schaut, ob mit dem Verlängerungskabel noch alles passt.

Es soll Menschen geben, bei denen von Heiligabend bis Neujahr durchgehend Raclette gegessen wird; man muss zugeben, dass das eine clevere Idee ist. Weil es zwischen Schinken-Silberzwiebel und Pilz-Tomate-Kartoffel zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten gibt, wird das nie langweilig. Überhaupt, die Kartoffeln! Sie bilden - neben dem Käse - die Grundlage jedes ordentlichen Raclettes, meist als Pellkartoffeln serviert. Da hat man das Gefühl, mal noch so richtig was von Hand zu machen.

Profis kombinieren Raclette und Fondue und legen die Fleischstücke einfach oben auf den Grill, während unten in den Pfännchen der Käse schmilzt. Dazu gibt es dann die Curry-Soße und den Avocado-Dip, die schon daheim bei Mama immer so gut schmeckten.

Raclette-Gegner werden sagen, dass das alles verstaubt und spießig ist. Aber genau darin liegt der Reiz des Raclette-Essens: Es ist Tradition. Gerade an Weihnachten und Silvester gibt es nichts Schöneres als Traditionen. Natürlich kann man Raclette auch wann anders im Jahr essen, aber Silvester erinnert einen daran, dass es mal wieder höchste Zeit ist, und liefert die perfekte Rechtfertigung für eine ausgiebige Käse-Orgie. So fettig ist das gar nicht, man isst ja immer wieder viel Gemüse dazwischen.

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Fans kramen schon Tage vor dem 31. Dezember ihre Raclettegrills aus dem Keller, mit ähnlicher Vorfreude wie beim alljährlichen Auspacken des Christbaumschmucks. Wer an Silvester Raclette isst, guckt wahrscheinlich auch Dinner for One und lässt sich die Zukunft aus einem Stück Blei deuten, das alles Mögliche darstellt, aber nie das Baby, den Elefanten oder den Hut, von denen in der Anleitung die Rede ist. Und hat Spaß dabei. Wozu auch etwas neu erfinden, was in der Kindheit schon super funktioniert hat?

Essen ist nicht einfach nur Nahrung, Essen ist auch Emotion. Selten läuft das so gut zusammen wie beim Raclette-Käse an Silvester.

(Elisa Britzelmeier)

Okay, damals vor mehreren hundert Jahren, in den Hütten der Alphirten im Schweizer Kanton Wallis, mag das Ganze sinnvoll gewesen sein. Einen fettreichen Käse vor einer Feuerstelle schmelzen, dabei leicht anbrennen lassen und immer wieder ein Stück abzuschaben, das ergab eine einfach herzustellende, nahrhafte Mahlzeit und wärmte von innen gegen den garstigen Winter.

Die heutige, in deutschen Wohnzimmern verbreitete Version des Raclette, ein billiger Elektrogrill mit Heizplatte, unter der sechs bis acht Pfännchen platziert werden, ist dagegen bloß Ausdruck einer fast possierlichen Kleinbürgerlichkeit.

Der Gast wird genötigt "mal kurz beim Schnibbeln zu helfen"

Der kollektive Raclette-Wahn, der die Deutschen jedes Jahr zu Silvester befällt, folgt dem alten Fünfzigerjahre-Adenauer-Motto "Keine Experimente". Bloß nichts Neues wagen, hat ja immer schon funktioniert. Deshalb holen sie jedes Jahr diesen Elektrogrill aus dem Abstellraum. Jedes Jahr säubern sie ihn mit Spüli, jedes Jahr wird kontrolliert, ob auch alle Pfännchen und die hölzernen Abschaber da sind. Jedes Jahr zerteilen sie einen riesigen Berg Fleisch in mundgerechte Stücke, jedes Jahr schneiden sie Zwiebeln, Gurken, Tomaten und Paprika und jedes Jahr besorgen sie sich diesen fetten Raclette-Käse, der die Grundlage bildet.

Wobei schon da das Problem beginnt, weil natürlich ALLE an Silvester Raclette machen und der verdammte Käse fast überall ausverkauft ist. Das Prinzip jeder privaten Essenseinladung - der Gastgeber bereitet ein Essen zu, die Gäste können sich zurücklehnen, genießen und die Kochkünste des Gastgebers preisen - ist beim Raclette aufgehoben. Denn ich als Gast werde genötigt, "mal kurz beim Schnibbeln zu helfen", was ungefähr so glamourös ist wie damals in der WG-Küche, als es immer Nudeln mit irgendeiner Soße gab.

Die Verfechter des Raclette führen an dieser Stelle an, dass diese Form des Essens ja wahnsinnig kommunikativ sei. Das stimmt tatsächlich. Allerdings kennt die Kommunikation nur ein einziges Thema. Weil die Schüsselchen mit den Zutaten quer über den großen Tisch verstreut stehen, ist man ständig damit beschäftigt, Tischnachbarn mit organisatorischen Belangen zu behelligen. "Franziska, gibst Du mir mal den Mais, bitte". "Malte, steht bei Dir die Butter?". "Caroline, ich bräuchte noch eine Garnele". Richtig hektisch wird es, wenn man den Überblick verliert, wo sich das Pfännchen befindet: "Äh, war das mit dem roten Griff deins, Antonia?" oder: "Wer hat schon wieder meine Schinken-Ananas-Kombi gegessen?".

Auch die vermeintliche Gemütlichkeit will sich partout nicht einstellen. Denn weder die Ein-Pfännchen-Taktik noch die Zwei-Pfännchen-Taktik funktionieren richtig. Im ersten Fall geht alles viel zu langsam. Die langen Pausen, die sich ergeben, weil der Käse mit dem Gemüse noch nicht geschmolzen und die Rindfleischstreifen noch nicht gar sind, muss man überbrücken, indem man trockenes Baguette isst, das man in Cocktail-Sauce tunkt. So stillt man den Hunger, der sich stundenlang aufgebaut hat, mit eigentlich überflüssigem Füllmaterial. Zwei Pfännchen hingegen bedeuten echten Stress. Während man noch damit befasst ist, den Inhalt des ersten zu verspeisen, brennt auf dem zweiten schon der Käse an.

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Abgesehen davon riecht nach der Raclette-Sause die ganze Bude drei Tage lang wie eine Frittenbude in Wanne-Eickel. Ist doch alle Mühe wert, weil es so lecker ist, sagen die Raclette-Fans. Nun was soll man sagen? Schmeckt stinknormal.

(Oliver Klasen)

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