Essen und Trinken:Kraut mit Rüben

Essen und Trinken: Das Prinzip "Leaf to Root" (vom Blatt bis zur Wurzel) wird gerade zu einem Markenzeichen der innovativen Gemüseküche.

Das Prinzip "Leaf to Root" (vom Blatt bis zur Wurzel) wird gerade zu einem Markenzeichen der innovativen Gemüseküche.

(Foto: mauritius images)

In der neuen Gemüseküche kocht man mit der ganzen Pflanze: "Leaf to Root" - vom Blatt bis zur Wurzel. Sogar Spitzenköche setzen nun auf Gemüseabfälle.

Von Kathrin Hollmer

Das Nürnberger Sternerestaurant "Essigbrätlein" serviert seinen Gästen, was Köche gemeinhin verschmähen. Eine Sauce entsteht aus gegrillten Blättern und entsafteten Abschnitten vom Kohlrabi. Spargelspitzen sind auf eine würzige Creme aus verbrannter Spargelschale gebettet und eingelegte Wassermelonenschale wird zum frischen Topping für geschmorte Zwiebel mit Linsencreme. Gourmetküche aus Gemüseabfällen? Ja, ganz richtig. Und es schmeckt fantastisch.

Spitzenköche, die das Gemüse von der Beilage in den Mittelpunkt gerückt haben, verwerten immer mehr Obst- und Gemüsesorten komplett. Das Prinzip "Leaf to Root" (vom Blatt bis zur Wurzel) wird gerade zu einem Markenzeichen der innovativen Gemüseküche. Ein Ansatz, der den Blick dafür schärft, welche Beschränkungen sich die Menschen bislang bei ihrem Speiseplan auferlegen, was ihnen geschmacklich dabei entgeht und wie viel sie wegwerfen, obwohl man es eigentlich essen könnte.

Weil diese Ideen es wert sind, in die Welt getragen zu werden, steht Andree Köthe, Chef des "Essigbrätlein", nun in der Küche der Bayerischen Genussakademie im fränkischen Kulmbach und macht für einen Workshop vor, wie man ungewöhnliche Pflanzenteile auf den Teller bringt. Köthe schneidet geschossene Lauchtriebe in zierliche Stücke und arrangiert sie auf einem Löffel mit Minzmolke und Kastanienblütenmayonnaise. Danach füllt er Erbsenschoten mit einer Pistaziencreme und garniert sie mit Erbsensprossen.

"Heute haben wir regelrecht vergessen, was man alles essen kann"

Neben dem Koch steht die Schweizer Journalistin Esther Kern und kommentiert. Zum Beispiel, dass man die Erbsenschoten auch komplett verwenden könne für Suppen oder Risottos, wenn man das zähe Häutchen an der Innenseite entfernt. Früher wurde aus Sparsamkeit und Mangel möglichst alles komplett verarbeitet. Karottengrün habe man als Petersilienersatz genommen, sagt Kern, Kohlrabi samt Kraut gekocht. "Heute haben wir regelrecht vergessen, was man alles essen kann."

Esther Kern ist Initiatorin und Namensgeberin der "Leaf to Root"-Bewegung, die 2014 mit einem Bund Karotten ihren Anfang nahm. Kern stand in ihrem Garten nahe Zürich, hielt ihre selbstgezogenen Karotten in der Hand und fand das schöne Grün zu schade, um es wegzuwerfen. Sie hatte von Köchen gehört, die Kraut, Stiele, Wurzeln und Samen von Früchten verarbeiten, und begann, für ihr Portal "waskochen.ch" Köche nach Rezepten für die Gemüseteile zu fragen, die man gewöhnlich wegwirft. Zum Namen inspirierte sie die "Nose to Tail"-Bewegung des Briten Fergus Henderson, bei dem es darum geht, in der Fleischküche alle Teile eines Tieres zu verarbeiten - von der Schnauze bis zum Schwanz.

Aus der spontanen Aktion hat Kern zusammen mit dem Rezeptentwickler des Züricher "Hiltl", des ältesten vegetarischen Restaurants der Welt, ein Kochbuch vorgelegt. "Leaf to Root" (AT-Verlag) gilt schon ein Jahr nach Erscheinen als Standardwerk der ambitionierten Gemüseküche, auch wegen des akribischen Nachschlageteils zur Komplettverwertung von 60 Obst- und Gemüsesorten. Dafür forschte Kern in alten Kochbüchern, interviewte Spitzenköche und Bauern und baute die Webseite "leaf-to-root.com" samt Rezeptsammlung auf.

Wenn der Koch zum Gärtner wird

Während in der Haute Cuisine mehr und mehr ungewöhnliche Pflanzenteile verarbeitet werden, ist die "Leaf to Root"-Bewegung in Privatküchen bisher nur bei experimentierfreudigen Hobbyköchen angekommen. Zutaten wie Chicoréewurzeln oder Kapuzinerknospen sind auf dem Wochenmarkt auch kaum zu kriegen, weil das Gemüse dort meist küchenfertig geputzt ist. Im "Essigbrätlein" baute man sich ein Netzwerk aus Bauern auf. Köthes Hose ist schmutzig, weil er schon um fünf Uhr früh auf dem Feld stand, um geschossene Lauchtriebe und Acker-Hellerkraut zu ernten. Er experimentiert mit Kohlpflanzen, die er über den Erntezeitpunkt hinaus auf dem Feld stehen lässt und in verschiedenen Reifestadien probiert. Hyperregionalismus und der Siegeszug der neuen Gemüseküche haben den Koch zum Gärtner gemacht.

Im Garten müsse Vieles neu gelernt, alte Gewohnheiten müssten überdacht werden, sagt Esther Kern. "Wir haben uns bei Gemüse an milden Geschmack gewöhnt", sagt sie. Blätter, Strunk, Schale und Wurzeln enthalten oft Bitternoten, die wir auch nicht mehr kennen, weil sie aus vielen Sorten herausgezüchtet wurden. Und es gibt kulturelle Unterschiede: Hierzulande landet die Wassermelonenschale im Biomüll, in Südkorea kommt sie ins Kimchi, in Katalonien wird daraus Konfitüre, in den USA Chutney.

Es ist eine kleine Revolution. Vor gar nicht so langer Zeit gerierten sich einige Gourmetküchen noch als Labore, in denen Lebensmittel dekonstruiert und mit künstlichen Zusätzen in jeden beliebigen Aggregatzustand verwandelt wurden. Die meisten Köche ließen Luxusprodukte einfliegen. Heute kann es gar nicht natürlich genug sein. Das Restaurant wird als erweiterter Bauernhof begriffen und der wahre Luxus kommt von der Scholle vor der Tür.

Nachhaltigkeit und neue Aromen

Im Workshop reicht Esther Kern nun verschiedene Gemüseblätter herum: "Karottenkraut schmeckt nach Karotte, hat aber auch die leichte Schärfe von Koriander und die Muskatnote von krauser Petersilie", erklärt sie. Kern unterteilt Gemüse und Obst in "Filet" und "Second Cut". Letztere schmecken immer auch nach artverwandten Pflanzen. Beim Fenchelkraut etwa ist der Anisgeschmack intensiver als im Fenchel-Filet - der Knolle also. Bei Papayakernen kommen Senföle und die verwandte Kapuzinerkresse durch. Oft ergänzt der Geschmack der Second Cuts das eigentliche Aroma - "wie bei einer süßen Karotte die leicht bittere Schale", erklärt Micha Schäfer, Küchenchef im Berliner Sternerestaurant "Nobelhart & Schmutzig".

Esther Kern und vielen neuen Gemüseköchen geht es um Nachhaltigkeit. Vor allem aber ist ihnen wichtig, durch Entsaften, Trocknen, Verbrennen und Fermentieren neue Aromen zu entdecken. Eine Exotik in bekannten, regionalen Produkten; oder neue - natürliche - Texturen. Köthes Lauchtriebe haben eine Konsistenz, wie man sie von auf den Punkt gegartem Spargel kennt, und dazu die Schärfe einer Zwiebel. "Die Second Cuts haben oft einen anderen Biss als die eigentliche Frucht", sagt Köthe. Im Gemüse stecken Geschmacksmöglichkeiten, von denen wir derzeit höchstens den Hauch einer Ahnung haben.

Doch wie weit kann man diesen Weg gehen? "Es macht keinen Sinn, ein Produkt zwanghaft vollständig zu verarbeiten", sagt Andreas Rieger. Der Küchenchef im Berliner Sternerestaurant "Einsunternull" ist zum Beispiel bekannt dafür, nur aus Wasser und einem Knollensellerie samt Schale und Wurzeln eine Jus zu kochen. Aber nicht jeder Second Cut sei eine kulinarische Bereicherung, sagt er. "Bei Kohlsorten finde ich die Wurzeln nicht sonderlich spannend." Sein Kollege Micha Schäfer ergänzt: "Das Grün einer älteren Roten Bete ist auf dem Kompost besser aufgehoben."

Es geht also nicht darum, zwanghaft jedes Blättchen zu verwerten, nur weil es essbar ist. "Beim Tier macht es keinen Sinn, wenn man etwa Innereien wegwirft", sagt Kern. "Grünabfall dagegen gibt dem Boden Nährstoffe zurück." Kern will nicht dozieren, sondern lieber neugierig machen.

Was besonders gesund ist - und was giftig

Für die Gastrojournalistin hat das auch mit Verantwortung zu tun: "Ich wusste am Anfang nicht, was man überhaupt gefahrlos essen kann", sagt sie. "Kohlpflanzen zum Beispiel sind komplett essbar, auch Blüte und Samen." Tomatenrispen und -blätter dagegen gelten wegen des hohen Solaningehalts in größeren Mengen als giftig. Auf Rezepte mit Tomatenkraut verzichtete Kern darum im Buch. Jedoch wird beschrieben, wie Köche es einsetzen: "Die Sterneköchin Dominique Crenn zum Beispiel macht Cracker mit Tomatenkraut", sagt Kern.

Bei Kartoffeln wiederum verweisen Experten darauf, dass in und unter der Schale besonders viele Vitamine und Nährstoffe sind, andere warnen davor, weil der Solaningehalt in der Schale höher ist als in der Kartoffel selbst. "Letztlich macht die Menge das Gift", erklärt Esther Kern.

"Manche Pflanzenteile sind abführend oder lösen Krämpfe aus", sagt Andreas Rieger. "Man muss sich informieren, ob und in welchen Mengen man etwas essen sollte." Weil die Grenzwerte für Spritzmittel für die Teile gelten, die üblicherweise verzehrt werden, sollte man Früchte aus konventionellem Anbau nicht komplett verwenden. Am besten eignen sich selbst gezogenes Obst und Gemüse oder Produkte in Bioqualität, die man gut säubern sollte.

Noch ist die Bewegung am Anfang. Deshalb sind sogar für Profis ungewöhnliche Obst- und Gemüseteile mitunter nicht einfach zu beschaffen. Rieger spricht sich mit anderen Köchen ab, sodass neue Netzwerke entstehen: "Der eine mag die Blüten, der andere die Blätter." Gerade holte er Kiefernzapfen aus dem Wald und legte Triebspitzen ein. "Leaf to Root" dehnt sich auf den Wald aus - "von der Rinde bis ins Mark", wie Karin Greiner in ihrem Buch "Bäume - in Küche und Heilkunde" (AT-Verlag) schreibt. Sie empfiehlt unter anderem Lindenblätterpesto und Tee aus Ahornrinde.

Doch "Leaf to Root" ist auch alltagstauglich. Das beginnt damit, bei Kräutern wie Kerbel, Petersilie und Basilikum statt der Blätter auch die Stiele zu verarbeiten, in denen oft mehr Aromen stecken. "Oder damit, Gemüse nicht immer zu schälen", sagt Rieger. "Gut waschen reicht oft." Als Einstieg eignen sich Radieschen, Kohlrabi und Karotten, die Biomärkte mit Kraut verkaufen. Eines von Esther Kerns ersten "Leaf to Root"-Rezepten war ein Pesto aus Karottenkraut, Pinienkernen, Olivenöl und Parmesan. Sie hätte sich damals nicht träumen lassen, was alles entstehen kann aus einer guten Idee und einem Bund Karotten.

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