Essen & Trinken:Der Laborant

Starkoch Ferran Adrià in München, 2018

Ferran Adrià kauft auf dem Viktualienmarkt ein? Das wäre ein Traum für das Münchner Tourismusbüro. Aber der spanische Starkoch shoppt nur für die Fotografen - und hat extra seine eigene Kiste mitgebracht.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Auch ohne eigenes Restaurant gilt Ferran Adrià als einer der wichtigsten Köche der Welt. Er widmet sich der Forschung - und der Selbstinszenierung.

Von Marten Rolff

Es gibt viele Menschen, die den Katalanen Ferran Adrià bis heute als wichtigsten Koch der Welt bezeichnen. Erstaunlich daran ist aber nicht der Superlativ, der auch in der Spitzengastronomie schon lange eine so inflationäre wie kaum messbare Größe darstellt. Nein, viel bemerkenswerter ist, dass diese Verehrung einem Koch zuteil wird, der seit 2011 kein eigenes Restaurant mehr führt. In der Welt der Haute Cuisine, in der man im zunehmenden Gerangel um Aufmerksamkeit immer verzweifelter Trends und Ranglisten zu Markte brüllt, sind sieben Jahre mehr als eine Ewigkeit. Unter normalen Umständen wäre es der todsichere Schritt in die Bedeutungslosigkeit.

Nicht so bei Ferran Adrià, wie schon ein Besuch in München von kaum 24 Stunden beweist. Wenn Adrià etwa auf dem Viktualienmarkt ein Töpfchen Basilikum hochhebt oder den Blick über eine Kiste Kartoffeln schweifen lässt, dann protokolliert das sogleich ein Tross von Journalisten. Wenn er später Interviews im Bayerischen Hof gibt, dann ist schon die große Entourage ein Hinweis darauf, dass es hier eher um Audienzen geht. Und wenn der Spanier schließlich federnd das Restaurant Tantris zum Presselunch betritt - ein kleiner 56-Jähriger in blauem Doppelripp-T-Shirt und pluderiger Sommerhose - dann geht immer noch ein Raunen durch den Saal.

In 27 Jahren hat er nur 20 Tage im Restaurant gefehlt, zehn davon wegen seiner Hochzeit

Nun waren die Umstände bei Ferran Adrià nie normal. Fünfmal, so oft wie kein anderes Lokal, wurde sein "El Bulli" zum besten Restaurant der Welt gewählt. Zuletzt soll es zwei Millionen Reservierungsanfragen für jährlich 8000 Plätze gegeben haben. Ob diese Zahlen übertrieben waren, ist schwer nachprüfbar, aber letztlich unerheblich, weil der Mythos die Realität zu dem Zeitpunkt schon längst überholt hatte und ein Tisch im El Bulli de facto sowieso nicht zu kriegen war. Die Gäste speisten dort auf einer Felsnase an einer einsamen Bucht nördlich von Barcelona, virtuos inszenierte Menüabfolgen aus bis zu 35 Gängen, deren Aggregatzustand und Kombination nach Belieben verändert zu werden schien: vakuumgetrocknetes Curry mit flüssigem Hühnchen, karamellisiertes Entenfett, Schäume als Soßen, Lutscher aus Gemüse, gedämpfte Seeanemone mit Austern und Kaninchenhirn oder zu Perlen gefrorenes Olivenöl, umwabert von flüssigem Stickstoff. Dekonstruktion und Rekonstruktion lauteten die Stichworte dazu.

Ein Restaurant, von dem die New York Times damals schrieb, es "als Restaurant zu bezeichnen, ist, wie Shakespeare einfach 'einen Schriftsteller' zu nennen." Mit einem Koch, der Spanien fast im Alleingang zur kulinarischen Weltmacht beförderte, weil er alles auf den Kopf zu stellen schien, was die Menschen über Essen wussten. Der eigentlich Fußballer werden wollte, die Schule abgebrochen hatte, erst als Tellerwäscher nach Ibiza und später als Smutje zur Marine gegangen war. Und dieser Mann betet dann mit Anfang 20 die Grundlagen der französischen Klassik runter, als wäre sein Kopf ein verdammtes kulinarisches Zentralarchiv. Mit Mitte 20 spricht er so mitreißend über Küche, als habe er kein Lokal an der Costa Brava übernommen, sondern den Harvard-Lehrstuhl für kreatives Kochen.

All dies erfährt man noch einmal in der Dokumentation "El Bulli, die Geschichte eines Traums", die ursprünglich im spanischen Fernsehen lief und seit dieser Woche, erweitert um drei neue Folgen, beim Streamingdienst von Amazon abgerufen werden kann. Deshalb ist Ferran Adrià gerade auf Werbereise. Und wenn es heißt, bei diesem Koch sei alles etwas größer als gewohnt, dann darf die Serie als Beweis dafür gelten. Andere berühmte Köche erachten es heute als Ehre, wenn ihnen Netflix eine 45-Minuten-Folge bei "Chef's Table" widmet. Doch um das Werk Adriàs auch nur annäherend angemessen abzubilden, braucht es offenbar 15 Teile von je etwa einer Stunde. Nach Folge eins ist gerade mal die Vorgeschichte des Restaurants El Bulli abgehandelt, das ursprünglich einem deutschen Ehepaar gehörte, das es nach seiner Bulldogge benannte. 300 Personen treten in der Doku auf, kein Detail ist zu unwichtig.

Da stellt sich die Frage, wozu ein solcher Bombast nötig ist. Wer wird sich die Zeit nehmen für eine 15-stündige Serie über einen Koch, wie berühmt der auch sein mag? Ferran Adrià, der beim Interview in München von einer Dolmetscherin, einem Marketingberater, einem Pressesprecher und zwei PR-Assistentinnen unterstützt wird, wundert sich über diese Frage. Er empfiehlt sogar, die Dokumentation mehrmals zu schauen. Dann sei der Lerneffekt größer.

Nun würde es Adrià nicht gerecht, in solchen Vorschlägen nur Egomanie, Größenwahn oder Marketinggetöse zu sehen. Vielmehr geht es auch um einen kulinarischen Nerd, dem selbst abstrakte Fragen von Beginn an nicht groß genug sein konnten. Als bisher einziger Koch wurde er 2007 zur Documenta nach Kassel eingeladen, wo er eine hitzige Diskussion darüber auslöste, ob Kochen Kunst sein darf. Eigentlich, so sagt Ferran Adrià, hätten ihn in seiner Karriere immer nur zwei Dinge interessiert: die Weiterentwicklung und der Dialog darüber.

Das El Bulli war für ihn Bühne, Schaufenster und kreativer Spielplatz zugleich; hoch defizitär ("Geld muss man mit Büchern und Projekten außerhalb verdienen") und sechs Monate im Jahr geschlossen, "um Neues zu schaffen". Ohne absolute Ernsthaftigkeit sei es unmöglich, Avantgarde zu sein, findet er. Nur 20 Tage hat er in 27 Jahren im Restaurant gefehlt: "Zehn Tage für meine eigene Hochzeit, fünf Tage für die Vorbereitung der Hochzeit des spanischen Königs. Und fünf Tage für andere Termine." Nie eine Grippe, nicht die kleinste Erkältung? "No, no, no", sagt er da, fuchtelt mit dem Finger und guckt, als wisse er gar nicht, was eine Grippe ist.

Ein Gespräch mit Ferran Adrià darf man sich wie eine Art dadaistischen Workshop zu gastrophilosophischen Fragen vorstellen. Manches mit ein bisschen mehr Tamtam serviert als nötig. Aber er spricht ohne jede Herablassung, wobei er bei Antworten ständig von Thema zu Thema springt und Herleitungen oder Verbindungssätze oft einfach weglässt. Vor ihm liegt ein Stapel DIN-A4-Blätter, auf die er als Erklärung mit Kugelschreiber Schaukästen und Organigramme kritzelt, in denen es zum Beispiel um den Unterschied zwischen Schaffensprozess neuer Gerichte ("möglicherweise Kunst") und deren Reproduktion ("keine Kunst, wenn ich Sauerkraut mache, ist es immer gleich") geht. Oft antwortet er mit Gegenfragen: "Kennen Sie den Unterschied zwischen dem Stil des französischen Kochs Michel Bras und dem des Dänen René Redzepi? Und haben Sie sich nie gefragt, warum man das nirgends nachlesen kann?"

Damit wäre man bei Adriàs Kernthema: Dass man noch viel zu wenig über Spitzenküche weiß, "dass uns Grundlagen für Diskussion und Einordnung fehlen, dass es keine Ebene gibt, um mit den Leuten zu kommunizieren". Die Kunst sei der Küche, die erst seit Kurzem Einzug an den Universitäten hält, da um ein knappes Jahrhundert voraus, glaubt er. Weil es Forschung und ein geschultes Publikum gebe, weil ja sogar Doktorarbeiten dazu geschrieben würden, welchen Einfluss die Uhrzeit auf die kreativen Schübe von Andy Warhol hatte.

Ferran Adrià wundert sich bis heute, wie sehr er polarisiert hat. Wieso es den Kulturbetrieb aufregte, dass ein Koch auf eine Kunstausstellung reist, die Leute sollten doch bitte selbst entscheiden, ob und wann Küche sie inspiriert. Oder die Debatte um seinen Stil. Die einen hätten "Iiieehh Chemie!" geschrien, ihm Effekthascherei vorgeworfen, weil er Zusatzstoffe nutzte, um Essen zu verändern, andere hätten vom katalanischen Alchemisten und seiner geheimnisvollen Molekularküche geschwärmt. "Aber was soll das sein, Molekularküche?", fragt er. Der Begriff stammt von einem italienischen Wissenschaftsautor, der mit Adrià nichts zu tun hat. In der Amazon-Dokumentation kommt er gar nicht vor.

Ferran Adrià gilt als Erfinder der Molekularküche. "Was soll das denn sein?", fragt er

Etwas Koketterie spielt bei Adrià natürlich mit, weil er weiß, wie all die Schubladen und das Alchemie-Geraune den Mythos befeuert haben. Trotzdem wolle er nicht zurück in sein altes Leben. Er widme sich nur noch zwei Dingen: Er will die Forschung über die Küche vorantreiben und das Wissen über sie ordnen. Viele in der Branche wissen, dass er eine Stiftung gegründet hat, die El Bulli Foundation, mit Laborräumen über einer Garage in Barcelona. Die wenigsten können dann erklären, was er dort genau macht. Auch, weil vieles so abstrakt klingt, so schwer darstellbar ist.

Es geht um den Aufbau einer multimedialen Enzyklopädie, um eine Art Weltarchiv der Kulinarik. Die Stiftung vergibt auch Stipendien für Forschungsprojekte, die Adrià als "kreativer Anführer" betreut. Er widmet sich Konventionellem wie der Geschichte der kulinarischen Avantgarde oder Abseitigem wie der Decodierung des Genoms von Dom Pérignon ("Was genau macht einen Champagner einzigartig?"). Zudem hat der Chef gerade für das Picasso-Museum in Barcelona gezeichnet, "zum ersten Mal in meinem Leben". Dort läuft eine Ausstellung über Picassos Küche. Der Maler und der Küchenkünstler - Dialog ist alles.

Nach einem Tag in der Stiftung geht Ferran Adrià gern in einer der auf Monate ausgebuchten Tapas-Bars seines Bruders Albert essen. Ist er ein wenig neidisch, fehlt ihm der Restaurantbetrieb? Schließlich gibt es ständig Gerüchte, dass Adrià noch einmal selbst etwas eröffnen wird. "Auf keinen Fall", sagt er da, "ein Restaurant bereitet vor allem eins: Probleme."

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