Essen:So rettet glutenfreies Gebäck einen ganzen Ort

Essen: Die glutenfreien Torten des Cafés "Margit & Fehl" versüßen Zöliakie-Patienten in Scheidegg den Urlaub.

Die glutenfreien Torten des Cafés "Margit & Fehl" versüßen Zöliakie-Patienten in Scheidegg den Urlaub.

(Foto: Robert Brembeck)

Immer weniger Urlauber kamen nach Scheidegg im Westallgäu. Das änderte sich, als mehrere Frauen ein kluges Konzept für Allergiker entwickelten.

Von Lea Hampel

Catarina Hauser schiebt den Teller mit der halben Portion Kässpätzle weg, und sagt: "Mehr ess' ich nicht, sonst ist nicht genug Platz im Bauch." Die 11-Jährige ist schlaksig, wie es Mädchen oft sind in dem Alter, in dem sie so schnell wachsen, dass sie kaum genug essen können. Nach den Spätzle gibt es Brot mit Quinoa-Aufstrich. Catarina (zum Schutz ihrer Privatsphäre möchten Catarina und ihre Familie nicht mit richtigem Namen genannt werden) nimmt auch davon nur wenige Bissen.

Zwischendurch steht sie auf, geht zum Kühlschrank und schaut, ob das Dessert fertig ist. Sie kann es kaum erwarten. Dabei ist sie es gewohnt, geduldig zu sein, wenn es ums Essen geht. Als sie vier Jahre alt war, wurde bei ihr Zöliakie diagnostiziert. Viele Kuchen, Brotsorten, Nudeln und Gewürze, die in normalen Läden und Restaurants angeboten werden, sind für sie tabu. Denn wenn sie Weizen, Dinkel, Roggen, Gerste oder Hafer isst, entzündet sich ihr Dünndarm, sie bekommt Durchfall und Bauchschmerzen. Doch hier und heute ist das anders. Ausnahmsweise.

Sie holt den Kuchen aus dem Kühlschrank, streut vorsichtig Puderzucker darüber. Das erste Stück nimmt sie sich selbst. Wer etwas zubereitet hat, darf als Erster probieren, lautet die Familienregel. "Hmmmmm, Biskuitrolle", sagt sie mit vollem Mund, lächelt und drückt die Gabel wieder in das weiche Gebäck. "Backen ist für uns am schwierigsten", sagt Catarinas Mutter und strahlt, als sich ihre Tochter ein zweites Stück abschneidet. Für ­Momente wie diesen hat es sich gelohnt, dass Familie Hauser an diesem heißen Sommertag in das Dachgeschoss des ­Gemeindehauses gekommen ist und den glutenfreien Kochkurs besucht, statt ins Freibad zu gehen. Und es hat sich auch gelohnt, dass die Familie ihre zwei Wochen Sommerurlaub dieses Jahr nicht am Meer verbringt, sondern in dem kleinen Kurort Scheidegg im Allgäu.

Glutenfreie Ferien, das bedeutet für ­Familie Hauser: einfach mal entspannt urlauben, ohne vorzukochen, ohne einen Kofferraum voll eigens eingekauftem Mehl mitzubringen und problemlos nachmittags Kuchen essen gehen zu können. Für den Ort Scheidegg bedeutet das: vier Gäste mehr, die hier essen, einkaufen und übernachten - mit anderen Worten: Touristen, in einer Zeit, in der die Zahl der Besucher sinkt. Scheidegg, eine Gemeinde von rund 4200 Einwohnern, verteilt auf 39 Ortsteile, ist seit zehn Jahren auf Familien wie Catarina spezialisiert: Menschen, die an Zöliakie leiden und deren Alltag davon bestimmt wird.

Der Ort hatte solche Konzepte lange nicht nötig. Er liegt knapp 20 Kilometer entfernt vom Bodensee, es gibt Wanderwege zwischen sanften Hügeln und satten Wäldern, am Horizont sind die Alpen zu sehen. Schon während der Wende zum 20. Jahrhundert kamen die Sommerfrischler, seit mehr als 80 Jahren hat der Ort den Status "Höhenluftkurort". Doch seit einigen Jahren lockt das nur noch wenige. Die Winter werden wärmer, seitdem kommen weniger Skitouristen. Die Krankenkassen zahlen kaum noch klassische Badekuren, damit bleiben im Rest des Jahres Besucher aus. Wer eine Woche frei hat, fliegt heute nach Spanien oder London, teurer als die Fahrt ins Allgäu ist das nicht mehr. Ältere Stammgäste, die Jahrzehnte ins gleiche Hotel fahren, gibt es kaum noch. Stattdessen stehen viele deutsche Erholungsorte vor dem gleichen Problem: "Wanderurlaub kann man in vielen Regionen machen, schön ist es überall, aber damit kann man sich nicht von anderen Orten abheben", sagt Marina Boll.

Seit ihrem ersten ­Praktikum im Rathaus vor neun Jahren erlebt die 26 Jahre junge Tourismuschefin mit, wie der Ort versucht hat, sich trotzdem abzuheben. Was dabei herausgekommen ist, wirkt, als hätte man bei jeder Gemeinderatssitzung eine andere Idee ausgesponnen: Scheidegg wirbt schon am Ortseingang mit dem Superlativ, mehrere Jahre messbar sonnigster Ort Bayerns gewesen zu sein ("Sonnenterrasse überm Bodensee"), hat eine große und eine Minigolfanlage, ein Alpenfreibad und einen Reptilienzoo, einen Ponyhof und einen Kapellenweg, einen Baumwipfelpfad und eine Schaukäserei - alles einzeln nett, aber nichts, was Gäste­ aus Hamburg oder Leipzig anlockt.

Höchstens ein Prozent der Bevölkerung ist betroffen, und nur wenige wissen von ihrer Krankheit

Dass sie doch kommen, dafür hat vor mehr als zehn Jahren Monika Draga gesorgt. Seit Jahren hatte die Touristikfachfrau, selbst Zöliakie-Betroffene, ein Konzept in der Tasche: ein ganzer Ort, an dem Menschen mit ihrer Krankheit essen, trinken und einfach Urlaub machen können, ohne an ihre Einschränkung zu denken. Sie begann, in Scheidegg an einem Kiosk Eis zu verkaufen, das nicht wie viele andere Sorten Gluten als Stabilisator enthält, nahm Kontakt zur Gemeindeverwaltung auf, fand Mitstreiterinnen. Doch bis aus Scheidegg, dem Heilkurort, der Ort mit dem Gluten oder vielmehr der Ort ohne das Gluten wurde, sollte es dauern. Dass es vor allem Frauen sein würden, die sich die Idee ausdachten und vorantrieben, findet Hermine Eller im Nachhinein logisch: "Meistens sind sie sowohl in den Betrieben als auch in den Familien für die Ernährung zuständig", sagt sie. "Und sie entscheiden maßgeblich, wo es im Urlaub hingeht."

Hermine Eller, 64 Jahre alt, sitzt im Vorgarten ihres Elternhauses, neben ihr Plastikkisten mit jungen Salatpflanzen. Sie erinnert sich gut an die Zeit, als die Idee aufkam. Damals betrieb sie seit Jahrzehnten eine Pension: einfache, mit Holz und rot-weißem Karostoff eingerichtete Zimmer, ein deftiges Frühstück, abends regionale Spezialitäten wie Spätzle und Krautkrapfen. Nicht eben diättauglich, aber weit über Scheidegg hinaus bekannt für den guten Geschmack war ihr Gasthaus. Entsprechend skeptisch war sie, als es hieß: Geht das auch ohne Gluten? Wie so mancher, erinnert sie sich, hielt sie das für eine Modekrankheit. "Früher, als ich jung war, gab's das schließlich nicht." Außerdem sind höchstens ein Prozent der Bevölkerung betroffen, und nur wenige wissen von ihrer Krankheit, wie sollte sich das rentieren? Trotzdem wurde Eller neugierig: Sie selbst hatte seit Jahren Darmprobleme. Und begann zu lesen. Nicht nur dazu, was Zöliakie ist. Sondern was alles in modernen Lebensmitteln verarbeitet wird und welche gesundheitlichen Folgen das hat. Seitdem baut sie ihren Salat selbst an - und arbeitet daran mit, Scheidegg zum Ferienort für Menschen zu machen, die kein Gluten vertragen.

Wie aufwendig das ist, hat sie schnell selbst gemerkt. Damit sie Gästen glutenfreies Essen anbieten konnte, musste sie in der ohnehin schon kleinen Küche des alten Bauernhauses einen eigenen Bereich einrichten, in den kein herkömmliches Mehl oder Brot kommt. Sie brauchte Geräte, oft teurere Produkte und Fachwissen, wie es sonst nur ausgebildete Diätassistenten haben: Weil schon ein Krümel Beschwerden verursachen kann, darf ein Brotkorb mit glutenhaltigem Brot nicht über einen glutenfreien Frühstückstisch gereicht werden. Pommes dürfen nicht in Fritteusen zubereitet werden, in denen normales Schnitzel ­paniert wird. An Schneebesen, wie man sie für Spätzle braucht, sammeln sich schnell Getreidepartikel. Und mit Holzbrettern, auf denen glutenhaltiges Brot geschnitten wurde, darf Essen für Betroffene nicht in Kontakt kommen. All das hat Eller über die Jahre gelernt, sie hat an Schulungen teilgenommen, mit Gästen gesprochen. In jahrelangen Experimenten hat sie glutenfreie Varianten von Allgäuer Spezialitäten entwickelt: Spätzle, Krautkrapfen und Käskücherl.

Ist ein Kind betroffen, bestimmt Zöliakie den Alltag aller

Was nach viel Aufwand klingt, ist damals vor allem eines: eine Marktlücke. Denn Zöliakie-Patienten haben eine besondere Bedürfnislage. Ihr Leidensdruck ist enorm. Es gibt zwar Anzeichen für die Krankheit, Durchfall etwa oder einen aufgeblähten Bauch, aber der Weg bis zur Diagnose ist oft lang und schmerzhaft. Finden sie Lösungen, sind Betroffene oft bereit, Zeit und Geld zu investieren. "Nachdem sie einmal gemerkt haben, dass sie hier wirklich keine Angst haben müssen, haben all meine Gäste auch höhere Preise, die durch den größeren Aufwand entstehen, immer anstandslos bezahlt", sagt Hermine Eller. Selbst Menschen, die wenig Geld hätten, würden im Urlaub mehr ausgeben, erst recht, wenn sie dafür ausnahmsweise ­alle gemeinsam essen gehen können. Denn vor allem für Familien ist Zöliakie ein schwieriges Thema: Ist ein Kind betroffen, bestimmt das den Alltag aller. Entspannung davon lässt man sich gern auch mal etwas kosten.

Auch bei Familie Hauser ist das so. Seit ihrer Diagnose im Alter von vier Jahren durfte Catarina kein Brot vom Bäcker mehr essen, keine Eiswaffeln, keine Pizza. Es folgte, sagt der Vater, "eine enorme Frustphase" - für seine Tochter, aber auch für den Rest der Familie. Zwar versuchen die Eltern heute, dem Essen in ihrem Leben nicht zu viel Raum zu geben. Doch in der Küche der Hausers gibt es fast keine glutenhaltigen Produkte mehr, beim Einkaufen achten alle Familienmitglieder auf die Packungsangaben, für den Grundschulhort mussten die Eltern vorkochen. Obwohl sie in einer Großstadt wohnen, können sie zu Hause nur in ein Restaurant essen gehen. "Und im Urlaub kann man nie sicher sein", sagt der Vater. "Ein Risiko geht man immer ein." Das Risiko, dass das Kind den Rest der Ferien mit Magenschmerzen und Durchfall im Bett verbringt - und der Urlaub für alle ruiniert ist.

Damit das nicht eintritt, greift in Scheidegg seit 2007 ein umfassendes Konzept. Im Edeka gibt es ein eigenes Regal mit glutenfreier Ware, einer der örtlichen Bäcker backt zweimal in der Woche glutenfrei. Für Touristen finden Kochkurse statt und Infoabende. Einige Ferienwohnungen sind auf Zöliakie-Patienten ausgerichtet, es gibt beispielsweise zwei Toaster. Die Gastronomen kooperieren mit zwei der örtlichen Kliniken und der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft, die Betroffene berät. Mittlerweile bietet die Hälfte der Lokale glutenfreies Essen, regionale Spezialitäten, aber auch glutenfreie Burger. "Und selbst wenn in einem Restaurant nur glutenhaltige Gerichte auf der Karte stehen, kann man immer nachfragen, weil die meisten Wirte zumindest von Zöliakie gehört haben und wissen, was sie spontan anbieten können, Fleisch, Gemüse und Salat zum Beispiel", sagt Tourismuschefin Marina Boll.

All das bedeutet bis heute viel Arbeit. Immer wieder gibt es Rückschläge. An manchen Wochentagen haben nur wenige ­Restaurants mit glutenfreiem Angebot offen. Außerdem sähe Boll gern einen höheren Anteil regionaler Spezialitäten glutenfrei auf den Speisekarten: "Ein Kaiserschmarrn wäre toll", findet sie. Sie sitzt über einem Stück glutenfreiem Schokoladenkuchen auf der Terrasse des "Café Kurhaus". Sie selbst ist nicht von Zöliakie betroffen, aber ab und zu probiert sie die Angebote ihrer Wirte. Sie erzählt von der Überzeugungsarbeit, die sie und Hermine Eller, mittlerweile Vorsitzende des Wirtevereins, noch täglich leisten. Mehrere Jahre hatten zwei engagierte Damen das "Café Kurhaus" betrieben und Sahnetorten für ­Zöliakie-Patienten angeboten, dann machten sie sich mit einer Firma für glutenfreie Produkte selbstständig.

Der italienische Nachfolgepächter war skeptisch gegenüber dem ganzen Konzept, bis er verstand, dass er nicht nur mit einzelnen Zöliakie-Betroffenen rechnen darf, sondern mit deren Partnern, oft ­einer ganzen Familie. Solche Details müssen Boll und Eller immer ­wieder erklären. Zögern Wirte, unterstützt die Gemeinde sie auch finanziell, schult Mitarbeiter kostenlos oder hilft bei der Werbung.

Dass sich das Ganze lohnt, ist schwer in Zahlen zu belegen. Rund zehn Prozent der Gäste kommen wegen der Zöliakie, zum großen Teil aus Süddeutschland, aber auch aus anderen ­Regionen - so wie Familie Hauser, die aus Hessen angereist ist. Allein von ihnen leben kann kein Wirt. Aber der Erfolg lässt sich an anderen Kriterien festmachen: 2010 hat Scheidegg den Deutschen Tourismuspreis in der Sondersparte Gesundheit bekommen. Und immerhin steigen die Gästezahlen so, dass derzeit ein neues Hotel mit 98 Zimmern entsteht. Im März war Marina Boll auf der ITB, der wichtigsten deutschen Tourismusmesse, in Berlin. Als sie sagte, wo sie herkommt, meinte eine Gesprächspartnerin: Ihr seid doch die mit dem Gluten? "Der Bekanntheitsgrad hat sich definitiv erhöht." Scheidegg sei nun mehr als einfach ein Ort wie unzählige im Allgäu, ­allein das ist ein Erfolg.

Der eigentliche Erfolg zeigt sich anders: Immer wieder bekommt Hermine Eller Post von dankbaren Gästen. Mancher Tourist kauft noch am letzten Urlaubstag fünfzig Brötchen beim Bäcker, um sie mitzunehmen und einzufrieren. Und in Zöliakie-Foren gilt Scheidegg unter verzweifelten Eltern als heißer Tipp: Catarina beispielsweise hat in diesem Urlaub das erste panierte Schnitzel ihres Lebens gegessen. Die Damen von Scheidegg wollen sich auf solchen Erfolgen nicht aus­ruhen. Sie planen glutenfreie Wochen fürs kommende Jahr. Und denken darüber nach, wie sich weitere Zielgruppen erschließen lassen. Die gesunde Ernährung, findet Marina Boll, ist die richtige Richtung. Und wer weiß, überlegt sie laut: "Eventuell kommen irgendwann Laktose und Fruktose dazu."

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