Essen im Sommer:Brezen, Bier und Schweinenacken - So dick macht der Sommer

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Die Leichtigkeit des Schweins: Münchner Biergartenessen in seiner ganzen kulinarischen Pracht. (Foto: Natalie Neomi Isser)

Das Essen in der warmen Jahreszeit ist leicht und gesund, heißt es immer. Dabei ernähren wir uns nie schlimmer als in der Open-Air-Saison.

Von Marten Rolff

Im Frühling steigt die Vorfreude auf Open-Air-Abende, Picknick und Biergarten. Der symbolträchtigste Ort für das Vorfreude-Ritual ist aber schon lang nicht mehr das Sonnenstudio ums Eck oder die Spaßlandschaft Tropicana in Bad Soundso, nein, es ist paradoxerweise das Kühlregal - bei Rewe, Lidl oder Edeka.

Schweine-Bauchscheibe "Paprika", Puten-Grilly "Classic" oder Hühnchen-Spieß "Arizona" heißen die populären Zutaten für (prä-)sommerliche Gourmet-Abende. Serviert werden sie gern leicht verkokelt oder nicht ganz durch oder auch mal beides. Und manchmal, wenn der Säureregulator und das Natriumacetat gängiger Marinaden (heute alle unbedingt gluten- und laktosefrei!) ausreichend Aluminium aus der Grillschale geätzt haben, ist da dieser aufregende Hauch Metall-Aroma.

So schmeckt der Sommer. Und was auch immer das Wetter macht, sicher ist: Es könnte wieder heiß werden.

Aber keine Sorge, das hier ist keine Grill-Philippika, es soll weder um Regeln noch Vorwürfe gehen. Wenn im Folgenden trotzdem das schlechte Gewissen mitverhandelt wird, dann trägt die Schuld daran allein der Sommer selbst. Denn als große Mogelpackung unter den Jahreszeiten treibt er uns in die kulinarische Schizophrenie.

Wie sonst bitte sind Widersprüche wie dieser zu verstehen: Der Sommer gilt gemeinhin als gesündeste und leichteste Saison überhaupt. In der Nahrungsmittelwerbung präsentiert er sich seit Jahrzehnten ausschließlich als Valensina-frische Raffaelo-Fantasie. Die schlimmste anzunehmende Sünde: federweiße Kokospralinen (je 62 Kalorien) gleiten über kirschrote Lippen, während die Sommerbrise, dieses verspielte Luder, Leinenkleider um perfekte Körpersilhouetten flattern lässt.

Waschbrettbauch und Bikinifigur können wir abschreiben

Im Netz sieht es nicht anders aus. Dort ist das "Sommeressen" - (was das sein soll, wird nie erklärt) - dank Google-Algorithmus auf ewig untrennbar mit dem Attribut "leicht" verbunden. Den Körper jetzt nicht mit schwerer Kost belasten!, warnt das metabolische Deutschland. Von innen kühlen!, säuseln die Ayurveda-Damen und empfehlen schweißdrosselnde Kräuter oder leicht gesalzenen, nicht zu kalten Pfefferminztee, so als läge Bergisch-Gladbach auf der Höhe von Casablanca. Derweil heben die Gastro-Magazine fürs kommende Wochenende Fischfilet mit Zitrone, Mangold und Süßkartoffelpüree auf die Karte.

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Das alles ist sicher ungemein bekömmlich. Die Frage ist dann nur: Warum stehen wir im Geiste schon wieder am Kühlregal oder vor der Eis-Theke, sitzen im Biergarten oder beim Public Viewing - und stopfen und schütten bis Ende August so viel zweifelhaftes Zeug in uns rein, als fiele drei Monate lang Weihnachten auf Ostern?

Ernährungsexperten äußern sich widersprüchlich zu dem Problem, wie sich Sommer und Winter jeweils auf den Stoffwechsel auswirken. Seriöse Forscher sind jedoch der Meinung, dass es da keinen signifikanten Unterschied gibt. Und dass eine ernstzunehmende Beurteilung natürlich von Veranlagung und Lebenswandel jedes Einzelnen abhängt. Surft er, schwimmt sie, oder fährt er Ski? Liegt sie im Winter auf dem Sofa und er im Sommer nur am Pool?

Tendenziell sei jedoch richtig, "dass wir im Sommer eher mehr Energiezufuhr benötigen, einfach weil die Tage länger sind und wir uns mehr bewegen", sagt Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Universität Göttingen. Allerdings, und da wäre er wieder, der Widerspruch: In einer Jahreszeit, in der man weniger Kleidung trägt, passe der höhere Kalorienbedarf nicht zur "Sehnsucht nach einer halbwegs intakten Figur und Fitness", ergänzt Ellrott. Und nun? "Der Kompromiss ist, Leichtigkeit zu inszenieren."

Realistisch betrachtet befinden wir uns im Juni ja bereits in der Auch-schon-egal-Phase, hätte man die Projekte Waschbrettbauch und Bikinifigur besser Aschermittwoch angehen sollen, aber das macht das Problem nicht kleiner. Im Gegenteil. Jetzt spielt offenbar das schlechte Gewissen mit. Denn der Aufwand für das Leichtigkeitstheater ist beträchtlich, die große Sommershow bei Tisch allgegenwärtig.

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Sie begeistert das Publikum traditionell mit vermeintlich unverdächtigen Quarkspeisen, Joghurts ("Der mit dem sommerfrischen Fruchtgeschmack"), süßen Sorbets oder Obstbiskuits (leichter als Buttercremetorte!). Ein Kräuterdip darf mit fettem Frischkäse und Remoulade angerührt sein, solange wir - gleichsam als Ablass - ein erntefrisches Gürkchen oder eine Babykarotte reintunken. Lokale nehmen gern den "Sommersalat" ins Programm, was insofern verwirrt, als Salat heute das ganze Jahr über geerntet wird, der beste saisonal gesehen aber im Frühjahr, wobei es ausgerechnet den "Frühjahrssalat" nicht gibt.

Doch ab wie viel Butter-Croûtons, Senf-Honig-Dressing oder öligen Zucchini wird so ein leichter Sommersalat schwer? Und machen eine gebratene Hühnerbrust und fünf Sonnenblumenkerne ihn zum "Fitness-Teller", wie der Speisekartenduktus lehrt? Solche Fragen verbieten sich natürlich, auch wenn es manchmal besser wäre, sie zu stellen. Etwa, wenn wir bei McDonald's in der Schlange stehen und in Fitness-Sommerlaune den Salat-Wrap mit Quinoa-Bratling und dazu den Iced-Pfirsich-Maracuja-Smoothie wählen. Tja. Das macht dann 730 Kalorien, zwölf mehr übrigens als beim Big Mac mit Cola. Ooops!

Nun sind Kalorien bei Weitem nicht das einzige Kriterium. Und selbstverständlich hat auch der Selbstbetrug Grenzen. Kein Mensch, der zum Deutschlandspiel im Biergarten Spareribs und Pommes mit vier Hellen runterspült, würde ernsthaft behaupten, das sei leicht und gesund. Doch das kulinarische Sommermärchen hat viele Facetten. Es ist immer dort am überzeugendsten, wo Eindeutigkeit fehlt. Etwa weil die Genres sich mischen und die Grill- oder Cocktail-Sause als Garten- oder Strandparty camoufliert wird. Die Königsklasse sommerlicher Genuss-Simulation, die Champions League der Verklärung, bleibt dabei: das Picknick.

Allein der Name, eine edle französische Schöpfung aus piquer (aufpicken) und nique (Kleinigkeit), ist eine frühe Marketingleistung. Doch populär gemacht hat das Picknick erst der viktorianische Adel. Dass dessen Vorliebe eigentlich Buttergebäck und schmierigen Pasteten galt, hat der heutige Picknick-Fan lange verdrängt. Er sieht nur noch den Traum aus geflochtener Vollweide, der seit Mai in den Läden steht. Endlos variiert, als Korbmodel "Windsor", "Cornwall" oder "Canterbury", mit Antiklederriemchen, silbernen Messerchen und Servietten in kariertem Pastellgelb, Himmelblau oder Lindgrün. Wer würde da nicht gern zum Erbe adliger Esskultur!

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Nun ist das Picknick nördlich der Alpen leider kaum planbar, abgesehen von den Lucky Few, die sich - wegen der sündteuren Karten bei jedem Wetter - mit Pimm's und Gurkensandwich auf dem Opern-Open-Air von Glyndeborne einfinden. Für alle anderen kündigt sich das Mahl an der frischen Luft eher als hektischer Zwischenhoch-Jubel per Whatsapp an, wo Claudia gerade schreibt: "Hey, sieht ja jetzt doch total supi aus mit der Sonne. In zwei Stunden auf der Liegewiese am Stadtparksee? Jeder bringt was mit. Mmmhhh: Ich mach schnell noch meinen Nudelsalat."

Auf besagter Wiese ist das Korbmodel "Windsor" später die absolute Ausnahme. Dafür sieht man um so mehr signalfarbenes Plastik vom Discounter, wo nach der Arbeit allerlei Outdoor-Kost zusammengerafft wurde. Dank lückenloser Whatsapp-Kette gelang es auch, die drei zentralen Versorgungsengpässe im Basislager Stadtpark auszugleichen: Holzkohle, ein Beutel Bintje, mehlig kochend, und ein Klotz Emmentaler. Toll: Jan hat es noch zum griechischen Feinkostladen geschafft und Fladenbrot mit Humus (Kichererbsen in Öl) Taramàsalata (Fischrogen in Öl) und Auberginencreme (Aubergine in Öl) erbeutet.

Das Picknick? Riesenerfolg! Auch weil die Al-Fresco-Romantik (ab 15,5 Grad) sogar die rosa Fischpampe zur mediterranen Delikatesse umgedeutet hat. Derweil tun mangelnde Übersicht (welcher Pappteller war meiner?) und Ablenkung ihr Übriges.

Der Rest ist Gruppendruck

Der Mensch, so lehrt die Ernährungspsychologie, ist dank zweier komplexer Entscheidungssysteme im Gehirn durchaus in der Lage, eine reflektierte und gesunde Wahl seiner Speisen zu treffen. Das Dumme: Das rationale der beiden Systeme erfordert volle Rechenleistung und ist wegen des Trubels leider gerade außer Betrieb. Jetzt funktioniert nur noch das, "was wir Bauchgefühl nennen", so Psychologe Thomas Ellrott. Und das rät uns angesichts der Bombenstimmung: Putenwürstchen sind leicht, und das kühle rosa Getränk dort (Erdbeer-Daiquiri? Himbeerbowle? Rotwein-Sprite?) passt perfekt zum Sommer.

Der Rest ist Gruppendruck. Lukas hat noch ein Bier für jeden geöffnet und Claudia ihren Lieblingsnudelsalat extra vegan zubereitet (frittierte Falafelbällchen statt Feta, die Zitronenmayo ohne Ei), damit ihn diesmal wirklich alle probieren können. Jeder in der Runde hat nun zwei Möglichkeiten: nach Seitan-Bratling oder verbrannten Käsekrainer, Öl-Dips und Julias Tomaten-Cashew-Couscous ("Soo lecker, musst du probieren"!) tapfer weitere 460 Kalorien weglächeln. Oder als Erster überzeugend eine Spontan-Zöliakie vortäuschen.

Letzteres tut natürlich keiner. Stattdessen isst die Picknick-Republik zwischen Isarauen und Elbstrand begeistert weiter. Warum auch nicht? Es ist ja allemal besser als der Tortilla-Currywurst-Mix an den Buden der Open Airs und Sommermärkte.

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Wir fahren also gut damit, uns den Sommer schönzureden. Sonnenuntergang und Flussrauschen, Geplauder und Musik, Grilldunst und Biernebel, all das sind ja geradezu magische Zutaten. Es sind genau genommen die einzigen, die eine Nackenkarbonade vom Discounter essbar machen.

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