Ein Besuch bei den Tiramisù-Schöpfern:Schichtende

Tiramisù (Schichtspeise mit Mascarponecreme, Italien)

Wurde binnen Windeseile zum weltweit beliebtesten Dessert aus Italien: Tiramisù.

(Foto: StockFood)

Löffelbiskuits, Doppelrahmkäse, Eigelb, Zucker, Kakao und ungesüßter Kaffee - fertig ist das Tiramisù. Italiens berühmteste Nachspeise wurde im Restaurant "Le Beccherie" erfunden. Nun muss das Lokal schließen. Ein Abschiedsessen.

Von Thomas Steinfeld, Treviso

Neunzehn Uhr dreißig ist eigentlich zu früh, um in Italien zum Essen zu gehen. Doch Francesca Campeol hat schon vor Stunden statt der Speisekarte einen Zettel mit der Aufschrift "completo" - ausgebucht - auf das Pult hinter dem Eingang gelegt. So wie früher, als ihr Restaurant noch eines der beliebtesten der Stadt war.

Das Lokal "Le Beccherie" liegt hinter den Arkaden der Piazzetta Ancilotto, in der malerischen Altstadt von Treviso, 50 Kilometer nördlich von Venedig. An diesem Abend kommen die Gäste tatsächlich ungewöhnlich früh hierher, eine große Familie für den langen Tisch, eine kleine für den runden, Gruppen von Freunden, Rentnerpaare. "So ist das jetzt jeden Abend", sagt Francesca Campeol, und in der Stimme der Wirtin hört man Bitterkeit.

Denn erst seitdem Medien auf der ganzen Welt berichteten, dass "Le Beccherie" schließen wird, nach 76 Jahren, kommen sie alle wieder, die Neugierigen, die Sensationslustigen und die Sehnsüchtigen. Die vielen, die Abschied nehmen wollen. Schon gibt es keinen Weißwein mehr. Denn es lohnt sich nicht mehr, neuen zu bestellen. Am 30. März ist Schluss, bis dahin muss eben Prosecco getrunken werden.

Süßes aus der Metzgerei

"Beccherie" ist ein Wort aus dem Dialekt und bedeutet "Metzgerei". In Treviso und Umgebung war das Lokal einst bekannt für ein bäuerliches Hauptgericht: "Bollito misto" besteht aus gemischtem gekochten Fleisch vom Schwein, Rind und Huhn. Das Fleisch wird in einem bronzenen, beheizten Bottich auf Rädern vorgefahren und vor den Augen des Gastes tranchiert. Aber seinen wirklichen Ruhm verdankt das "Le Beccherie" einer Süßspeise: 1981 hatte die Zeitschrift Vin Veneto, die sich seit Jahrzehnten der Gastronomie der Region widmet, ein wenig statisch gemeldet: "In der Stadt Treviso wurde, vor ungefähr zehn Jahren, ein Dessert geboren, das ,Tiramesù'. Es wurde im Restaurant ,Alle Beccherie' erstmals angeboten, von einem Konditor namens Loly Linguanotto, der kurz zuvor aus Deutschland zurückgekommen war." Tiramisù (aus "me" wird im Veneto "mi") wurde binnen Windeseile zum weltweit beliebtesten Dessert aus Italien. Wer den Namen im Netz eingibt, verbunden mit der deutschen Anfrage "Rezept", findet fast 1,3 Millionen Einträge - sechsmal mehr als für "Spaghetti Bolognese".

Im Restaurant sind die Fenster zur Piazzetta hin mit halbhohen Gardinen verhängt. Von draußen sieht man nur einen Vorraum mit einer Kasse und einer offenbar selten benutzten Bar. Dort steht Carlo Campeol, der Wirt, und sieht so aus, als wolle er gar keine Gäste mehr sehen. Der Speisesaal dahinter ist groß, das Licht ungemütlich, wie in vielen alten italienischen Lokalen. An den Wänden hängt Kochgeschirr aus poliertem Kupfer, das Tafelwasser wird in kleinen Flaschen aus einer Kühltruhe in einer Saalecke geholt, die Speisekarte besteht aus Fotokopien in Maschinenschrift. Der Kellner hier hat entschiedene Ansichten, was gegessen werden soll. Er hat auch entschiedene Ansichten, was den Rotwein betrifft. Denn es gibt nur noch einen.

Zur Entstehung des Tiramisù kursieren viele Legenden. Manche reichen zurück ins 17. Jahrhundert, bis zu einem Fest, das in Siena zu Ehren des unglücklichen Großherzogs Cosimo III. ausgerichtet wurde. Aber gab es damals in der Toskana schon Mascarpone, einen Käse aus dem Veneto? Auch rühmen sich bis heute drei, vier weitere Lokale in der Gegend von Treviso ebenfalls damit, das Tiramisù erfunden zu haben, doch ihre Geschichten gelten gemeinhin als weniger glaubwürdig. Bleibt die Frage, wie groß eine Erfindung ist, die im Kern nur aus sechs Zutaten besteht, bei denen man es zudem mit den Mengen nicht so genau nehmen muss: Löffelbiskuits, Doppelrahmkäse, Eigelb, Zucker, Kakao und ungesüßter Kaffee? "Pasticceria povera" nannte die Zeitschrift Vin Veneto diese Art der Zuckerbäckerei, wobei "povera" hier nicht "arm", sondern "schlicht" bedeutet. Diese Schlichtheit ist - solange man über hervorragende Zutaten verfügt - bis heute ein Markenzeichen der italienischen Küche. Und sie ist auch der Grund, warum Tiramisù auf Buffets und Stehempfängen ebenso beliebt ist wie auf Kindergeburtstagen - es ist ein demokratisches Dessert, einfach herzustellen, ohne große Ansprüche, millionenfach abgewandelt und uminterpretiert, klassenlos.

Zieh mich nicht runter!

Den Konditor Loly Linguanotto machte die Erfindung dieses Desserts damals so berühmt, dass er im Auftrag einer großen italienischen Schokoladenfabrik auf Weltreise ging und seinen Ruhm genoss. Auf dem etwa 20 Jahre alten Foto im Eingang, das die gesamte Mannschaft des Restaurants zeigt, ist er nicht mehr dabei. Aber man erkennt sofort Carlo Campeol, den Wirt, und seine Frau, beide sehr vital, daneben die damals ebenfalls noch rüstigen Eltern des Wirts, die Köche sowie vier Kellner, von denen nur einer geblieben ist. Er trägt einen Smoking, und wenn er zum Abschluss des Essens eine Schablone am Stiel hervorholt, mit der er vor den Augen des Gastes das Wappen des Restaurants ins Kakaopulver zaubert, dann zelebriert er dieses Ritual mit einem Ernst, als wäre das Hackebeil mit dem gekreuzten Besteck ein uraltes Brandzeichen. Ein Brandzeichen für ein vergleichsweise junges Dessert, das seinen unerhörten Erfolg in den 80er-Jahren einer auf der ganzen Welt unschlagbaren Kombination verdankt: weich, bittersüß und sehr, sehr fett.

Man wüsste nun gerne, warum die Zeitschrift Vin Veneto damals so deutlich hervorhob, dass Roberto, "Loly", Linguanotto gerade aus Deutschland zurückgekehrt war, als er das Tiramisù erfand. Weil die Buttercremetorte seiner Kreation nicht unähnlich ist? Weil er im Norden das Interesse an einfachen, aber wirkungsvollen Erfindungen kennengelernt hatte? Weil er dort einiges über effektives Marketing gelernt hatte? Aber einen Modernisierungsschub gab es im "Le Beccherie" nicht. Hier wurde von jeher eine Küche betrieben, die auf Italienisch gar keinen Namen hat, die man auf Deutsch aber "gutbürgerlich" nennt. Sie ist in der Region verwurzelt, sie ist gut, aber sie bringt keine Marken hervor, sie kennt nichts, was man patentieren und mit Urheberschutz belegen würde. Und so glaubt man im "Le Beccherie" zwar fest daran, dass es ein originales Tiramisù gibt und dass dieses in der eigenen Küche "geboren" wurde - aber es hat hier nie jemanden gegeben, der etwas anderes darin gesehen hätte als den Abschluss einer Mahlzeit, die mit Baccalà, mit Stockfisch, beginnt und mit gekochter Rinderzunge fortgesetzt wird. "Wir haben Zutaten benutzt, die wir immer benutzen", sagt Carlo Campeol nur.

Süßes Allgemeingut des globalen Geschmacks

An diesem Abend, und es sieht so aus, als wäre es nie anders, kommen die Eltern des Wirts in das Restaurant. Sie treten ein, als wären sie Gäste: ein gebeugtes, gut gekleidetes Paar von sicher 90 Jahren, das keine Speisekarte erhält und sich, solange es am Tisch sitzt, angeregt miteinander unterhält. Die Legende sagt, es sei Alba Campeol, die alte Dame, gewesen, die zusammen mit Loly Linguanotto auf den Einfall gekommen sei, die Biskuits im Kaffee zu ertränken, den Mascarpone darüberzustreichen und das Ganze dann mit Kakaopulver zu bestreuen. Vor allem aber sei sie es gewesen, die den Namen erfunden habe. Denn sie war schwanger und habe etwas gebraucht, das sie "hochziehe" - "tira me sù". In benachbarten Lokalen waren für ähnliche Desserts die Namen "coppa imperiale" und "coppa vetturini" in Umlauf, aber die hatten nicht das Zeug zum Hit. Tiramisù hingegen ist hitverdächtig, und das verstand man schnell auch in anderen Regionen Italiens, wo andere Erzählungen über den Ursprung des Namens kursieren. Das Original aus "Le Beccherie" ist rund wie eine Torte, flacher, als man diese Nachspeise gewöhnlich serviert bekommt, daher erstaunlich fest, sehr schokoladig und weniger süß als gewohnt. Und es enthält weder Marsala noch Amaretto (große Streitfrage!) noch irgendeinen anderen Alkohol.

Carlo Campeol trägt ein dunkles Sakko und ein oben offenes weißes Hemd mit altmodisch großem Kragen. Selbst wenn er angesichts der "bolitti misti" das große Messer zieht und zu einer Geste ansetzt, die energisch sein müsste, sieht er aus, als trage er das Gewicht von mindestens drei Generationen auf den Schultern. Er redet nicht gerne, zumal nicht mit Fremden, die sowieso immer nur nach dem Tiramisù fragen, über das er ebenso ungern spricht. Fremden gibt er an diesem Abend allenfalls kurz zu verstehen, dass er die Schließung seines Lokals als "fallimento", als Scheitern, versteht. Als Konkurs, der typisch ist für Italien. Seit Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008 sind die Kunden fortgeblieben, die Politiker, die Handelsvertreter und die örtlichen Honoratioren, und vom Rest könne man nicht leben, sagt er.

Das Tiramisù aber wird weiterleben, als gigantisches, weißbraunes Monument erhebt es sich auch aus den Trümmern dieses Lokals. In rauen Mengen. Als süßes Allgemeingut des globalen Geschmacks. Meist mit Alkohol versetzt - denn der Marsala oder der Amaretto, so sagen die Gastrokritiker und Historiker, gäbe dem bitteren Espresso überhaupt erst die "Balance". Unterdessen berichtet die Washington Post, in Baltimore gebe es einen aus Treviso eingewanderten italienischen Koch, der behauptet, er habe das Tiramisù erfunden. Sein Bruder habe das Rezept vor vielen Jahren an die Besitzer des Lokals "Le Beccherie" verkauft, die es dann als ihre Erfindung ausgegeben hätten. So ist das eben auch in der Gastronomie. Sobald die letzten Kronzeugen abtreten, beginnt die Umdeutung der Geschichte.

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