Designer J.W. Anderson:Mr. Unisex

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Jonathan Anderson entwirft Herrenmode. (Foto: Jake Walters)

Mann? Frau? Egal! Mit seinem eigenen Label verwischt J.W. Anderson die Grenzen zwischen Männer- und Frauenmode. Dabei wollte der britische Designer einst Tierarzt werden.

Von Dennis Braatz

Der Londoner Stadtteil Dalston, an einem sonnigen Vormittag: Kunststudenten in Onesies, diesen äußerst bequemen Einteilern aus dicker Baumwolle, tragen ihre Mappen zur Vorlesung. Eine Dragqueen sperrt ihre Schwulenbar zu, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite versucht eine junge Frau in Business-Kostüm und Valentino-Pumps ein Taxi zu bekommen.

Schon seit ein paar Jahren zieht der kleine Außenbezirk im Norden der britischen Hauptstadt nun schon die Avantgarde aus ganz unterschiedlichen Milieus an, erst recht aber seit J.W. Anderson, derzeit einer der gefragtesten Modemacher der Welt, sein Atelier ins Viertel verlagert hat. Jeder kennt ihn hier. Für die meisten ist er "der Typ, der diese unglaublichen Looks für Frauen macht, die aber eigentlich für Männer sind." Stimmt schon mal, irgendwie zumindest.

Zum Termin mit ihm öffnet ein Empfangsmädchen die Tür eines alten Fabrikgebäudes. "Mister Anderson ist ein bisschen spät dran", sagt sie und bittet, sich die Zeit im strahlend weißen Meeting-Raum zu vertreiben, wo Lookbooks und alte Kollektionen den Werdegang des jungen Designers nachzeichnen.

2008 hat Jonathan William Anderson, wie sein richtiger Name lautet, damit begonnen, Mode für Männer zu entwerfen. Die Details dafür borgt sich der Absolvent des London College of Fashion bis heute aus den Kleiderschränken der Frauen. Schluppen zum Beispiel, also zur Schleife gebundene Stoffbahnen am Kragen einer Bluse, setzt er wie Krawatten an Seidenhemden. So entstehen Entwürfe, die in erster Linie Exzentrikern gefallen dürften. Oder Frauen.

Daunengefütterte Kastenjacken

Zwei Jahre später kam eine offizielle Damenlinie hinzu: daunengefütterte Kastenjacken aus Jersey mit Nadelstreifen, im Schritt geweitete Bundfaltenhosen aus Wolle und dazu XL-Blazer mit Taschen für Einstecktücher. Wieder eigentlich nur etwas für sehr mutige Kundinnen - oder eben für Männer. In jedem Fall aber Mode, die ihren Betrachter zum Nachdenken anregt, die ihn sich fragen lässt, ob das Gesehene jetzt schön ist oder nicht.

"Shared Wardrobe" nennt Anderson die Idee, dass Frauen und Männer sich ihre Kleidung doch eigentlich teilen sollten. Der British Fashion Council wählt ihn dafür 2012 zum besten Nachwuchsdesigner und 2014 zum besten Menswear-Designer. Die New York Times nennt ihn seither den "Meister neuer Formen".

Natürlich klingt das leicht verrückt. Allerdings ist das Spiel mit den Geschlechtergrenzen auf dem Laufsteg streng genommen nichts Neues. Und Anderson, der jetzt hastig seinen Kaffee trinkt und sich dabei die Haare zwirbelt, weiß das selbst am besten. "Denken Sie nur an die Achtzigerjahre!", sagt er, "damals ging es mit Schulterpolstern und Glitzersteinchen darum, die Illusion von einem Wesen zwischen Mann und Frau völlig zu überspitzen."

Mal ganz davon abgesehen, dass seitdem jede Saison aufs Neue irgendein Designer Androgynität zum Thema macht und den Kundinnen Marlene-Hosen verpasst: Hier geht jemand einen Schritt weiter als bei der üblichen Gender-Debatte und den Gleichberechtigungsthemen, wie sie Karl Lagerfeld gerade erst auf den Laufsteg gebracht hat, als er seine Chanel-Models mit Protest-Slogans wie "Ladies First" oder "Boys should get pregnant too" defilieren ließ. So selbstverständlich wie Jonathan Anderson hat noch kein Designer mit den Geschlechterrollen gespielt.

"Es gibt mittlerweile eine Generation, die keine Unterschiede mehr sieht zwischen Mann und Frau, der es darum geht, einfach so zu sein, wie man eben wirklich ist", sagt er mit tiefer Stimme. Der Brite mit den leuchtend blauen Augen und reizendem Babyface trägt selbst nur Jeans, gern zerschlissen, dazu Sneaker von Converse oder Nike und dünne Strickpullover - um seinen Entwürfen nicht die Show zu stehlen.

Obwohl für Herren gemacht, wird Andersons Mode vor allem von Frauen gekauft. (Foto: Getty)

Das Wichtigste für ihn sind aber nicht nur die geschlechteruntypischen Details seiner Mode, sondern auch der richtige Umgang mit Stoffen. "Auch ein Material, das eigentlich sehr männliche Eigenschaften besitzt, muss ins Weibliche übersetzt werden - und umgekehrt. Sonst funktioniert es nicht", sagt Anderson. Er meint Stoffe wie den dicken Filz, den er in seiner bislang am lautstärksten gefeierten Kollektion im Januar 2013 als Rüschen-Applikation an weite Shorts und T-Shirt-Ausschnitte gesetzt hat. "Oh, und sorry übrigens für die Verspätung!"

Schuld daran war der Eurostar aus Paris. Seit gut einem Jahr verbringt er dort drei bis vier Tage die Woche, um als Kreativdirektor das traditionsreiche Modehaus Loewe aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken. Delphine Arnault, nach ihrem Vater Bernard die zweitmächtigste Person im französischen Luxuskonzern LVMH, hat Anderson den Job persönlich angeboten. Erst ein paar Monate zuvor hatte sie einen Millionenbetrag in sein eigenes Label investiert.

Auch für Loewe designt er seitdem eine Herren- und Damenkollektionen, wendet, wenn auch deutlich abgeschwächt, seinen Mix aus maskulinen und femininen Kleidereigenschaften an, ohne die DNA des Hauses zu vernachlässigen. Und auch hier sind die Sachen so fabelhaft, dass sie von Vogue und Harper's Bazaar nur so rauf und runter fotografiert werden. Kenner reiben sich noch immer die Augen, weil Anderson scheinbar aus dem Nichts zu einem der verheißungsvollsten Designer für die nächste Dekade avanciert ist.

Auch das russische It-Girl Miroslava Duma gehört zu Andersons Kundinnen. (Foto: dpa)

Wie immer bei Mode, die für ihre Innovation gelobt wird, stellt sich aber die Frage: Kauft das denn auch jemand? "Die Umsätze im Herren-Segment konnten wir im letzten Jahr verdoppeln. Bei den Frauen ist es immerhin ein Plus von 30 Prozent", sagt Anderson und grinst. Neben Kollegen wie Erdem, Mary Katrantzou oder Christopher Kane gehört er zu jener Gruppe junger Designer, die im Studium erstmals auch detailliert gelernt hat, wie ein Business funktioniert. "Es ist unser Job, Dinge zu pushen und Trends in Umlauf zu bringen, um die Branche am Leben zu halten", sagt er.

Es geht um Peergroups

Dass das auch bei so offensichtlich nicht massentauglicher Ware perfekt funktioniert, wundert ihn keineswegs. Als Grund dafür nennt er das Internet. "Jeder will doch heute eigentlich nur noch seiner digitalen Peergroup gefallen. Davon gibt es aber immer mehr, und deshalb wird es wieder wichtiger, sich von anderen deutlich abzugrenzen. Wir werden mutiger."

Den einen großen Trend in der Mode gibt es eben nicht mehr. Wie bei allen anderen Designdisziplinen auch werden ihre Ausläufer kleiner und spezieller. "Ich habe letztlich meine eigene kleine Nische aufgetan. Langsam wird sie größer. Deshalb verkaufen wir auch zunehmend schlichtere Basics", grinst er wieder und faltet sich wie ein kleiner Junge in den Schneidersitz. Anderson ist stolz auf das, was er mit gerade einmal 30 Jahren geschaffen hat. Zehn Kollektionen verantwortet er jährlich, acht Modenschauen zusätzlich und dann wäre da noch die Anwesenheitspflicht bei unzähligen Store-Openings und Events auf der ganzen Welt. Ganz schön viel für jemanden, der erst seit so kurzer Zeit in der Branche ist.

"Du musst eben gut organisiert sein", sagt er und holt drei iPhones aus der Tasche. Eines für jedes Business: J.W. Anderson, Loewe, Privatleben. "Zum Glück machen das jetzt Leute für mich." Zu jedem Smartphone gehört ein persönlicher Assistent. Er selbst würde all die Termine nicht mehr koordiniert bekommen. Schon gar nicht, weil er nicht länger als zwei Stunden still sitzen kann. "Das war schon so als ich noch klein war", sagt er, die Haare mittlerweile zu unzähligen kleinen Hörnchen gezwirbelt.

Damals wollte Anderson unbedingt Tierarzt werden. Mit seinen Eltern wuchs er auf einer kleinen Farm in Nordirland auf. Der Vater war professioneller Rugby-Spieler und viel unterwegs. Die Mutter unterrichtete Englisch. Wenn er sich draußen nicht gerade um die geliebten Enten und Hühner kümmerte, sah er seinem Großvater, einem Textilfabrikanten, beim Camouflage-Drucken über die Schulter. "Wer in einer so kleinen Welt wie ich aufwächst, der fängt irgendwann zwangsläufig an ganz, ganz groß zu denken", erklärt er sich heute seine Berufswahl.

Andersons Geschäftsidee, Frauen- und Männermode wild miteinander zu vermischen, fand bereits in dieser Zeit ihren Ursprung. Schon in seiner Jugend sei es ihm egal gewesen, ob die Jeans, Strickpullover und -jacken, die er trug, für Männer oder Frauen gemacht waren. "Für mich war es schon immer dasselbe", sagt er. "Manchmal sitzt eine Klamotte aus der Frauenabteilung wegen der Passform vielleicht sogar besser."

Aus dem Einzelhandel ist schon länger zu hören, dass sich modebewusste Männer immer häufiger heimlich in die Damenabteilung stehlen, weil die Teile dort körperbetonter geschnitten sind. Und von Frauen wissen wir längst, dass sie sich der Coolness halber gern mal bei den Männern umschauen. J.W. Anderson ist der erste Designer, bei dem solche Kunden ganz offiziell zum Kleidertausch eingeladen werden.

Dabei macht ihm ausgerechnet das Internet immer wieder einen Strich durch die Rechnung. In seinem Online-Shop gibt es zwar ganz traditionell einen Männer- und einen Frauenbereich, aber viele androgyne Stücke tauchen natürlich in beiden Abteilungen auf - allerdings für Männer und Frauen in identischen Größen. Vor dem Bildschirm darüber nachzugrübeln, ob die Sachen auch passen werden: Das führt dann doch wieder zur Verwirrung der Geschlechter. Irgendwie beruhigend, dass auch solch zukunftsweisende Mode wie die von J.W. Anderson immer noch am besten im Geschäft anprobiert wird.

© SZ vom 10.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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