Dem Geheimnis auf der Spur:Lord Lucan auf der Flucht

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Er sah gut aus, war beliebt, aber ein Trinker und Spieler: Der Adlige verschwand 1974 nach einer Attacke auf seine Frau und der Ermordung des Kindermädchen spurlos.

Von Alexander Menden

Am Abend des 7. November 1974 stürzt eine blutüberströmte Frau ins Plumber's Arms Pub in der Londoner Lower Belgrave Street und schreit: "Er ist noch im Haus! Meine Kinder, meine Kinder! Er hat das Kindermädchen ermordet!" Die Frau ist Veronica Lucan, Gattin von John Bingham, 7th Earl of Lucan, sie behauptet, sie sei gerade einem Mordanschlag entkommen.

Eine knappe Stunde zuvor ist noch alles ruhig in der Lower Belgrave Street. Sandra Rivett, Lady Lucans Kindermädchen, hat an diesem Donnerstag auf ihren freien Abend verzichtet. Kurz vor 21 Uhr geht sie in die Küche im Keller, um Tee zu kochen. Als sie nach einer Viertelstunde nicht zurück ist, geht Lady Lucan ihr hinterher. Im Keller ist es dunkel. Sie ruft nach Sandra, da attackiert sie jemand und schlägt ihr einen stumpfen Gegenstand auf den Kopf. Lady Lucan schreit, der Angreifer versucht, ihr den Mund zuzuhalten, sie wehrt sich, er weicht zurück.

Bis hierhin sind die Ereignisse jenes Abends unbestritten. Auch, dass kurz nach Lady Lucans Hilferuf im Pub die Polizisten, die die Haustür aufbrechen, beim Eingang ein mit Klebeband umwickeltes Stück Bleirohr finden. Die Kinder liegen schlafend im Bett. Im Keller entdeckt die Polizei Sandras Leiche, erschlagen und in einen Postsack gesteckt.

Glaubt man Lady Lucan und dem Ergebnis einer Gerichtsuntersuchung eine Woche darauf, dann war der Angreifer und Sandras Mörder niemand anders als ihr Noch-Ehemann, der Earl of Lucan, allgemein "Lord Lucan" genannt. Er selbst kann sich gegen die Anschuldigung nicht persönlich verteidigen, denn er ist seit jenem Abend wie vom Erdboden verschluckt - bis heute. Und bis heute wird über sein Verschwinden spekuliert.

Der Spitzname des passionierten Spielers lautet "Lucky", aber besonders viel Glück hat er nicht

Richard John Bingham war die Inkar-nation aristokratischen Privilegs. Siebter in der angesehenen Erblinie der Earls of Lucan, fehlte es ihm seit Geburt 1934 an nichts. Er besuchte das Eliteinternat Eton und bekam eine einträgliche Stellung bei einer Londoner Handelsbank. Er war hochgewachsen, beliebt, gut aussehend - so sehr, dass Filmproduzent Chubby Broccoli ihn in für seine 007-Filme als James Bond in Erwägung zog. Auch das Familienleben schien perfekt zu sein. 1963 lernte er die attraktive Veronica Duncan kennen; sie heirateten und bekamen drei Kinder.

Lady Lucan 1974 auf der Rückfahrt von einem Gerichtstermin. Wollte ihr Mann eigentlich sie umbringen? (Foto: John Downing/Getty)

Doch hinter der respektablen Fassade hatte Lucan große Finanzprobleme. Er hatte 1960 den Bankjob aufgegeben zugunsten seiner großen Leidenschaft: dem Glücksspiel. Er galt als versierter Baccara- und Backgammonspieler und trug den Beinamen "Lucky". Doch allzu viel Glück hatte er nicht, immer verlor er mehr, als er einnahm. Veronica wusste zunächst nichts von Schulden. Sie litt nach der Geburt ihrer Kinder unter Wochenbettdepressionen, wollte aber nicht in psychiatrische Behandlung gehen. Sie sagte einer Angestellten, ihr Mann habe sie geschlagen. Die Ehe zerbrach. Im Dezember 1972 zog der Earl aus dem Haus in der Lower Belgrave Street aus.

Es folgte ein erbitterter Rechtsstreit um das Sorgerecht für die Kinder, dabei ließ der Earl Telefongespräche Veronicas mitschneiden und die Kindermädchen von Privatdetektiven überwachen. Ein Gericht entschied endlich, dass die Kinder bei der Mutter bleiben sollten - ein herber Schlag für Lord Lucan. Er begann zu trinken und deutete im Rausch an, er wolle Veronica umbringen.

Am 7. November 1974 eskalierte alles. Nach Veronicas Version erkannte sie im Angreifer ihren Mann. Er habe zugegeben, Sandra erschlagen zu haben, weil er sie im Dunkeln mit Veronica verwechselt habe. Sie wollte Zeit gewinnen und sei mit ihm nach oben gegangen. Als er ins Bad gegangen sei, um Verbände zu holen, habe sie fliehen können und im Pub um Hilfe gebeten. Bei der Ankunft der Polizei war der Earl bereits verschwunden.

Er rief zunächst seine Mutter an, Veronica sei verletzt. Dann fuhr er mit einem geliehenen Wagen zu seiner Freundin Susan Maxwell-Scott in Surrey. Ihr erzählte er seine Sicht der Ereignisse, die er dort auch in zwei Briefen an den Schwager Bill Shand-Kydd festhielt: Er sei zufällig am Haus vorbeigekommen, habe durchs Kellerfenster Veronica beim Kampf mit einem Unbekannten gesehen und sei hineingegangen. Im Keller sei er in einer Blutlache ausgerutscht und der Mann geflohen. Veronica habe hysterisch ihn beschuldigt, den Angreifer angestiftet zu haben und sei aus dem Haus gerannt. Da habe er es für besser gehalten, auch zu gehen.

Unter Mordverdacht: Lord Lucan. (Foto: Douglas Miller/Getty)

Lord Lucan verabschiedete sich um 1.15 Uhr morgens von Susan Maxwell-Scott und fuhr mit dem geliehenen Auto weg. Es war sein letztes Lebenszeichen. Das Auto wurde später verlassen in der Hafenstadt Newhaven am Ärmelkanal gefunden; innen stellte man Blutspuren und ein Stück Bleirohr sicher. Gegen Lucan erging Haftbefehl. Schließlich wurde er in Abwesenheit des Mordes an Sandra Rivett für schuldig befunden.

Es gibt nur noch wenige, die bezwei-feln, dass Lord Lucan der Angreifer war. Die Beweislast ist erdrückend, obwohl 2012 eine Aussage seiner Schwester Sarah Gibbs von 1974 auftauchte, nach der doch ein zweiter Mann im Haus gewesen sei. Spannender ist die Frage, wohin Lucan floh und ob er noch lebt.

Offiziell wurde er 1999 für tot erklärt. Doch seit dem Verschwinden gab es viele angebliche Sichtungen Lucans, unter anderem in Frankreich, Kolumbien, Indien und Neuseeland. Eine Theorie besagt, er lebe unter falscher Identität in Afrika. Eine ganz abenteuerliche meint, dass er zwar von nicht näher genannten Geschäftsfreunden außer Landes geschafft, dann jedoch in der Schweiz ermordet worden sei. Am wahrscheinlichsten ist aber die Mutmaßung, die Scotland-Yard-Beamte bereits 1974 äußerten: Lucan stellte sein Auto in Newhaven ab, bestieg eine Kanalfähre und stürzte sich irgendwo auf der Fahrt zum Kontinent ins Meer.

© SZ vom 08.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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