Dem Geheimnis auf der Spur:Klangmysterium

Enigma Variations. The Royal Ballet at The Royal Opera House, Covent Garden, London.

Erkennen Sie die Melodie? Eine Ballett-Aufführung der "Enigma-Variationen" im Royal Opera House in London.

(Foto: Elliott Franks/Intertopics)

Ein großes, übergreifendes Thema in der Partitur: In den "Enigma-Variationen" von Edward Elgar, dem viktorianischen Nationalkomponisten, versteckt sich angeblich eine Melodie, die man aber nie hört.

Von Wolfgang Schreiber

Land of Hope and Glory - die heimliche Nationalhymne der Briten ist ein feierlicher Marsch, der Hoffnung mit Triumph und Trotz verbindet. Der patriotische Ohrwurm erzeugt in Londons Royal Albert Hall bei 10 000 Fähnchen schwingenden Zuhörern der "Proms"-Konzerte stets seine berauschende Wirkung. Sir Edward William Elgar, Englands viktorianischer Nationalkomponist, hat das Lied 1898 komponiert, das Vereinigte Königreich glänzte in imperialer Größe. Heute jedoch: Als Begleitmusik zum Brexit ist der Marsch kaum geeignet, adäquater wären Elgars "Enigma-Variationen". "Enigma", das griechische Wort für "Rätsel". Elgars vierzehn Orchester-Stücke sind voll von Heimlichkeiten, Rätseln, wie der Titel andeutet - auch wenn Elgar selbst seine Variationen zuerst so nicht genannt hat.

Kaum rätselhaft ist, wieso der damals prominenteste österreichisch-ungarische Dirigent Hans Richter solche Variationen in Wagner'schen Klangausmaßen, die Elgar ihm als Partitur zugesandt hatte, gern zur Uraufführung annahm: Weil er in ihren Noten sofort das Meisterwerk erkannte, reich an satztechnischer Kunstfertigkeit, an Farben und Ausdrucksenergie. Richter war ja nicht irgendwer, gerade hatte man ihn in Manchester zum Chef des großartigen Hallé Orchestra gemacht. Und Richter war es gewesen, der im Neubau von Richard Wagners Bayreuther Festspielhaus 1876 dessen kolossalen "Ring des Nibelungen" zum ersten Mal dirigiert hatte.

Elgars Enigma-Variationen, die ihn berühmt machten, tragen mehr als nur ein Geheimnis in sich. Jede einzelne Variation unterliegt einer eigenen Verschlüsselung, das heißt: Jede von ihnen ist einem bestimmten Menschen aus Elgars Bekannten- und Freundeskreis zugedacht. Der Komponist hat das aber nur verdeckt, kürzelhaft publik gemacht, indem er lediglich die Initialen der Personen in der Partitur vermerkte, zu den Vortragsbezeichnungen. Das alles war ihm so wichtig, dass er das Deckblatt der Partitur mit dem Titel versah: "To my friends pictured within Edward Elgar Variations for Orchestra op. 36". Die Rätsel-Buchstaben sind mittlerweile entschlüsselt.

Suchte der Musiker, wie so viele große Komponisten, die Nähe zu Johann Sebastian Bach?

Ein Musikwerk als launiges Adressbuch. Das beginnt, nach dem elegischen Thema in den Streichern, gleich in der ersten Variation mit dem Kürzel C. A. E. Damit habe der Komponist seine Frau Alice gemeint, die ihn zu jener Melodie des Hauptthemas ermunterte, die Elgar einst beim Nachhausekommen vor sich hin pfiff. Die zweite Variation, Allegro, trägt die Bezeichnung H. D. S.-P., gemeint ist, heißt es, Elgars Freund Hew David Stewart-Powell und dessen Klavierspiel.

Und so geht es froh und munter weiter, bis mit der neunten Variation endlich Pathos erreicht ist - einem Adagio-Satz, der nur Nimrod heißt. Gewidmet ist er August Jaeger, einem engen Freund und Förderer Elgars. Der Name geht auf eine Legende zurück, in der ein "gewaltiger Jäger vor dem Herrn" sich Nimrod nennt. Das Allegretto der zehnten Variation tanzt mit der Bezeichnung Dorabella graziös über die Klangbühne. Die elfte, ein bulliges Allegro di molto, G. R. S. geheißen, dauert nur eine Minute und "beschreibt" auf recht grobe Weise den Organisten George Robertson Sinclair und seine Bulldogge Dan.

Bizarr wird es gegen Ende der Enigma- Klangbilder. Variation dreizehn, ein Moderato, Romanza überschrieben, hat statt Buchstaben nur drei Punkte vorzuweisen und gilt einer Dame, "die sich zur Zeit der Komposition auf einer Seereise befand" - so der Komponist, der dementsprechend ein Zitat aus Mendelssohn Bartholdys "Meeresstille und glückliche Fahrt" einstreute. Mit der letzten, der vierzehnten Variation, E. D. U. überschrieben, einem wuchtigen Allegro-Presto, hat sich Elgar selbst sein Denkmal gesetzt.

Da ist aber noch eine offene Frage: Warum komponierte Edward Elgar 14 und nicht acht, zehn oder 16 Enigma-Variationen? Annehmen darf man, dass die Zahl Vierzehn weder Willkürakt noch Zufall ist. Sie weist auf die Musik der Barockzeit und die Kunst Johann Sebastian Bachs hin. Damals liebte man Rätsel, Zahlenspiele, zahlensymbolische Bezüge. Ein Indiz in die Richtung gibt Elgars Oratorium "The Dream of Gerontius", das den geheimnisvollen Weg der menschlichen Seele nach dem Tod beschreibt und nur ein Jahr nach den Enigma-Variationen seine Uraufführung in Birmingham erlebte.

Suchte Edward Elgar hier, wie viele der großen Komponisten, die Nähe zu Johann Sebastian Bach? Beim Traum des Gerontius schrieb er in die Partitur die an Bachs gläubige Widmungsgewohnheit "Soli Deo Gloria" gemahnenden Buchstabenkürzel: A. M. D. G. Das meint: "Ad maiorem Dei gloriam" - zum größeren Ruhm Gottes. Und so bezieht sich auch die Zahl Vierzehn schlüssigerweise auf Bach. Im Zahlenalphabet durchnummerierter Buchstaben ergibt der Name B-A-C-H genau die Vierzehn: 14 Fugen in der "Kunst der Fuge", 14 Kanons in den Goldberg-Variationen. Edward Elgar - der britsche Schüler Johann Sebastian Bachs . . .

Das größte Rätsel der Enigma-Variationen aber hat Elgar selbst verkündet: Es gehe "durch und über die ganze Komposition ein anderes und größeres Thema, das aber nicht gespielt wird". Das Hauptthema erscheine nie, "der wichtigste Charakter tritt niemals auf". Wie das? Wollte Elgar mit dem unhörbaren, doch angeblich existenten "Thema" ein Geheimnis in seiner Musik verbergen, von dem niemand wissen durfte? Wollte er sein Spiel treiben mit Musikern, Hörern, der Musikwissenschaft? Oder ist alles nur eine Erfindung, mit der er die so vernünftige Welt britisch-humoristisch verunsichern wollte? Wir wissen es (noch) nicht.

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