Dem Geheimnis auf der Spur:Die wilde Gottesanbeterin

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Die Gottesanbeterin lauert oft stundenlang regungslos, bis sie sich auf ihr Opfer stürzt. (Foto: imago/Mint Images)

Wie der Philosoph Roger Caillois die ungewöhnlichen Insekten aus dem Blickwinkel des Surrealisten beobachtete.

Von Josef Schnelle

Roger Caillois, 1913 in Reims geboren, gehörte zum Kreis der Surrealisten um Georges Bataille, mit dem er 1935 die antifaschistische Gruppe Contre-Attaque gründete und ein Jahr später das Collège de Sociologie. 1939 verließ er Frankreich und ging nach Argentinien, wo er mit der Gründung der Zeitschrift Lettres françaises den Kampf gegen das Nazi-Regime fortsetzte. Er galt als Philosoph und Literaturkritiker mit einem bemerkenswerten Hobby: Er beobachtete die Natur aus dem Blickwinkel des Surrealisten. Dabei interessierten ihn die Vorstellungen der Menschen von der Tier- und Pflanzenwelt und die Bedeutungen, mit denen sie die Natur aufladen. Er schrieb einen berühmten Essay über Steine und ihre Formen und machte sich Gedanken über den Kraken als Ursprung des Imaginativen.

Das Weibchen beißt plötzlich dem Partner den Kopf ab und verzehrt ihn dann ganz

Besonders lesenswert sind seine Einlassungen über das seltsame Insekt Mantis religiosa, die Gottesanbeterin, die ihren Namen daher hat, dass sie häufig ihre Gliedmaßen wie betend zum Himmel streckt.

Genau wie sein Freund, der Surrealist André Breton, hielt Roger Caillois ein Exemplar in einem Käfig, um es besser beobachten zu können. An der Gottesanbeterin interessierte Caillois in den Dreißigerjahren das Anthropomorphe, das Menschenähnliche. Bekanntlich verharren Fangschrecken oft lange in völliger Unbeweglichkeit, um dann plötzlich zuzupacken und in einer Zehntelsekunde Fliegen, Bienen, Maden und andere Beutetiere bis zur Größe eines Kolibris zu verschlingen. Sie nehmen Tarngestalten an, als seien sie Äste und Zweige oder vertrocknete Blätter. Daher erkennen ihre Opfer sie so lange nicht, bis es zu spät ist.

Am meisten wird ihr Sexualverhalten diskutiert. Die Männchen nähern sich von hinten und springen im geeigneten Moment auf das wesentlich größere Weibchen auf. Nach der Vereinigung, die mit der Befruchtung der Eier endet, die vom Weibchen später gelegt werden, folgt das große Rätsel: Die Gottesanbeterin beißt unversehens dem Partner den Kopf ab und verzehrt ihn dann ganz. Wieso macht sie das? Kostet die spätere Aufzucht der Jungen so viel Kraft? Oder kann sie eine hilflose Nahrungsquelle wie das Männchen einfach nicht ignorieren?

Lange waren die Eigenschaften der Gottesanbeterin umstritten. Inzwischen steht fest: Nicht jedes Männchen wird bei der Begattung gefressen. Doch dieser besondere Kannibalismus geschieht immer wieder und begründet die Faszination der Mantis religiosa. Die lyrisch-poetische Gefräßigkeit der Gottesanbeterin hat die Menschen schon immer in den Bann gezogen, betont Caillois. "Beim Sex hat die Frau immer Macht über den Mann", schreibt er. Gemeinhin werden Männer eher nicht im Ehebett gefressen. Aber die Gottesanbeterin steht bei ihm für die Welt der Instinkte, die das Leben der Insekten bestimmt - und die manchmal einbricht in die Welt menschlicher Emotionen und in die Rationalität. Gleich nach dem Fangschrecken-Essay publizierte er einen Aufsatz über die, seiner Meinung nach, sinnfreien Zeichnungen der Schmetterlingsflügel.

Caillois kam zurück aus Argentinien und wurde 1971 Mitglied der Académie française. Wann er seine letzte Gottesanbeterin seziert hat, ist nicht bekannt. Doch seine Verehrung des ungewöhnlichen Geschöpfes gehört zu den großartigsten Tierbeobachtungen der Geschichte. In dem kuriosen Insekt - so Caillois - spiegeln sich die Ängste wider, die Männer vor Frauen entwickeln können. Wer einmal kopflose männliche Gottesanbeter gesehen hat, die als Nahrung für ihre weiblichen Partner dienen müssen, kann sich das Männerleben durchaus als besonders gefährliche Angelegenheit vorstellen.

Roger Caillois war kein Naturforscher im klassischen Sinn, erst recht kein Anhänger darwinistischer Vorstellungen. Die Gottesanbeterin wirkt bei ihm wie ein wildes Abbild von Ängsten, Leiden und Freuden in der Lebenswelt des Archaischen. Dem muss man erst einmal entkommen. Doch dann kann man die Natur und das Schöne darin ungehemmt in sein Leben lassen. Ist aber Sex nicht sowieso am Ende immer ein kleiner Tod, aus dem man nicht eher erwachen kann, bis er das Leben neu definiert? Sollten wir nicht dankbar sein für ein Tier, das uns das vormacht?

Die Gottesanbeterin macht klar, was den Menschen fehlt. Roger Caillois hat daraus ein wildes neues, eben surreales Gedankengebäude gebaut, in dem wir uns zwischen Medusen, Kraken und Steingebäuden kaum zurechtfinden können. Wann die Kannibalin das Männchen verspeist und wann nicht, konnte Caillois nicht ergründen. Dazu reichte seine Methode der rein äußeren Anschauung nicht. Neue Studien zeigen, dass es wahrscheinlich einfach nur um Nahrung geht: Manche Gottesanbeterinnen fressen die Männchen nämlich sogar schon auf, bevor es überhaupt zur Paarung kommt. Bei einer Fangschreckenart beißt das Weibchen dem Verehrer sogar während des Geschlechtsverkehrs den Kopf ab. Auch einige Spinnenarten machen das.

Caillois, der 1978 in Paris starb, gehört zu den Forschern, die eine rein rationale Erklärung von Naturphänomenen ablehnten und stattdessen eine fantastische Logik bevorzugten. Plötzlich wird so aus der Welt der Tiere und Pflanzen und des Naturschönen eine Seelenlandschaft, die unsere tiefsten Emotionen und Träume widerspiegelt.

© SZ vom 12.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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