Dem Geheimnis auf der Spur:Die Utopien von Bir Tawil

Dem Geheimnis auf der Spur: Im Sommer 2014 ernannte Jeremiah Heaton den Wüstenstrich einfach zum "Königreich Nord-Sudan".

Im Sommer 2014 ernannte Jeremiah Heaton den Wüstenstrich einfach zum "Königreich Nord-Sudan".

(Foto: privat)

Ein ödes Stückchen Niemandsland zwischen Ägypten und dem Sudan weckt im Internet bei Möchtegern-Napoleons Kolonialfantasien.

Von Tobias Sedlmaier

Haben Sie schon einmal vom Königreich Nikoku gehört? Oder von der Republik Vakakäria? Nein? Dabei soll dort die Lebensqualität vielversprechend sein, mit ökologischer Landwirtschaft, erneuerbaren Energien, einer stabilen Währung und allem Drum und Dran. Doch bevor Sie jetzt ins Schwärmen geraten und überlegen, den Pass zu wechseln und ein Flugticket zu buchen: Nikoku und Vakakäria sind kleine Kopfgeburten des Internets, Kolonialfantasien besetzungswütiger Individual-Napoleons, die über den tatkräftigen Mausklick beim Absenden idealistischer Blogbeiträge hinaus nicht weit gediehen sind. Es sind unausgegorene Blaupausen für den idealen Staat, flüchtige Posts sesshafter Spaßvögel.

Das Einzige, was an diesen Träumen wirklich existiert, ist der Boden, auf dem sie errichtet werden sollen. Er trägt den Namen Bir Tawil, misst etwas mehr als 2000 Quadratkilometer und breitet sich in der Form eines Trapezes zwischen Ägypten und dem Sudan aus. Als wohl einziges größeres nicht-ozeanisches Gebiet dieser Erde, auf das kein Staat direkt Anspruch erhebt, ist es terra nullius, Niemandsland. Das erscheint zunächst unverständlich in einer Welt, in der noch um den entferntesten Archipel und den hinterletzten Hügelkamm gefochten wird. Selbst das in der Antarktis gelegene Marie-Byrd-Land kann einen derart einsamen Status nicht wirklich für sich beanspruchen, da dort mehrere Nationen ihre Forschungszelte aufgeschlagen haben. Die Ödnis der Landschaft dagegen dürfte in beiden Territorien ähnlich schlimm sein, was den Eroberungsschwärmereien allerdings keinen Abbruch tut.

Ägypten und der Sudan schieben sich das Stück Wüste gegenseitig als Schwarzen Peter zu

Bir Tawil ist ein Stück Wüste, dessen Name so viel bedeutet wie "Langer Brunnen". Doch von einer vital sprudelnden Quelle ist nichts mehr übrig, das Gebiet ist verlassen. Selbst der Verbleib derer, die es jahrhundertelang durchzogen und als ihr kulturelles Erbe betrachten, die Ababda-Nomaden, ist ungewiss. Eine längere Dürreperiode hat das Land noch unwirtlicher gemacht, als es ohnehin schon ist. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum weder Ägypten noch der Sudan den Flecken für sich fordern, ihn sich vielmehr gegenseitig als Schwarzen Peter zuschieben. Bir Tawil ist ein treffendes Beispiel für die Idiotie und das Chaos kolonialer Grenzziehungspolitik. Großbritannien, das 1899 die gesamte Region kontrollierte, legte die wie mit dem Lineal gezogene Grenze so fest, dass das Halaib-Dreieck an Ägypten fiel und Bir Tawil an den Sudan. Der Unterschied zwischen beiden Gebieten ist der von Tag und Nacht: Halaib ist 20 000 Quadratkilometer groß, fruchtbar, liegt am Roten Meer und seit dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts werden dort Erdölvorkommen vermutet. Doch inmitten des nun ägyptischen Dreiecks lebte besagter Ababda-Stamm, der kulturell eher dem Süden zugehörig war und von dort aus leichter verwaltet werden konnte. Also stand bereits 1902 eine neue Demarkation an, bei der - man ahnt es - genau umgekehrt entschieden wurde. Welche Partei seither welchen Grenzverlauf bevorzugt, liegt auf der Hand. Faktisch hat derzeit Ägypten als die stärkere Militärmacht die Kontrolle über den Streifen am Roten Meer inne. Der Sudan verzichtet auf sein Anrecht auf die Felsenwüste.

Eben diese ungewisse politische Situation eröffnet das Spielfeld für all die Utopisten, Konquistadoren und Staatengründer, denen das Schicksal eines Robinson Crusoe nicht bedauerns-, sondern erstrebenswert erscheint. Es sind zumeist Amerikaner und Europäer, die eine uralte kindliche Sehnsucht nach Befriedung und Bebauung treibt und die ihrer Fantasie im Internet in Blogs oder Forenbeiträgen freien Lauf lassen. Einmal die Nebel der Terra incognita lichten, die Füße auf unbewohntes Terrain setzen, kolonisieren. Einmal der Gott der nicht mehr ganz so kleinen Dinge sein. Womöglich ist die Vermessung der Erde zu weit fortgeschritten, die Verteilung ihrer Güter zu klar reguliert und sind alle Sehnsuchtsorte vollständig vom Massentourismus entweiht, um einer dermaßen größenwahnsinnigen Versuchung nicht nachzugeben. Und wo, abgesehen vom "Neuland" Internet, könnte man das auch sonst noch?

Einer schickt sich gerade an, das letzte Niemandsland zum Jemandsland zu machen. Im Sommer 2014 fuhr der Amerikaner Jeremiah Heaton nach Bir Tawil, pflanzte eine Flagge in den Wüstensand und rief vor den Augen der etwas verdattert dastehenden Beduinen einfach mal das "Königreich Nord-Sudan" aus. Vorausgegangen war dieser Aktion ein Versprechen an seine Tochter Emily, die unbedingt eine Prinzessin sein wollte. Eine kleine Recherche machte aus einem unerfüllbaren Wunsch des Kindes eine (zugegebenermaßen nicht von den Vereinten Nationen anerkannte) Wirklichkeit und aus der verschmähten Wüste ein Königreich. Heaton begriff seine Okkupation mehr als einen Akt der Liebe denn der Kolonisierung; eine Ansicht, die in ihrer vollen Naivität umgehend die Disney-Studios auf den Plan rief. Ein Märchen mit dem Titel "The Princess of North Sudan" sollte daraus gestrickt werden; die Realisierung hängt, auch angesichts von Rassismusvorwürfen gegen den Titel, noch in der Luft.

Ein wenig mehr ist über die Pläne bekannt, die Heaton in Bir Tawil verwirklichen will. Mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne soll das Königreich Nord-Sudan zum Forschungslabor werden, dessen Hauptaufgabe die Bewältigung des Welthungers ist. Eine Homepage und eine App existieren bereits, allerdings fehlen internationale Anerkennung und das auf 500 000 Dollar bezifferte Startkapital. Eine Nationalhymne aber gibt es schon. Sie lautet passenderweise "Where The Streets Have No Name".

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