Dem Geheimnis auf der Spur:Der Tote Berg

Dem Geheimnis auf der Spur: Die Zelte der Gruppe waren wie in Panik von innen aufgeschlitzt worden.

Die Zelte der Gruppe waren wie in Panik von innen aufgeschlitzt worden.

(Foto: oh)

Im Winter 1959 werden neun sowjetische Skiwanderer tot im Nordural gefunden. Ihr Zeltlager ist verwüstet, die Leichen sind äußerlich aber fast unversehrt. Die Umstände ihres Todes geben bis heute Rätsel auf.

Von Tobias Sedlmaier

"Ich halte mir zugute, dass wir trotz unserer Trauer, der äußersten Verstörung und des Grauens, das unsere Seele ergriffen hatte, in keinem Punkt sonderlich von der Wahrheit abwichen. Die ungeheuerliche Bedeutung liegt in dem, was wir nicht zu offenbaren wagten; was ich auch jetzt nicht offenbaren würde, zwänge mich nicht die Notwendigkeit dazu, andere vom namenlosen Schrecken fernzuhalten." Das Gefühl unbeschreiblichen Grauens, das den Erzähler aus H. P. Lovecrafts "Berge des Wahnsinns" beim Anblick eines verwüsteten Antarktislagers überfällt, dürften womöglich auch die Mitglieder jenes Suchtrupps erfahren haben, der am 26. Februar 1959 die ersten Überreste eines der größten Rätsel der Sowjetunion entdeckte. Die Ursache für den grausamen Tod einer ganzen Gruppe von Skiwanderern ist bis heute nicht geklärt, bekannt ist nur die Genese des Unglücks durch den Fund von Kameraaufzeichnungen und Tagebüchern.

Weil sie vom Weg abkommen, müssen die Wanderer bei minus 30 Grad kampieren

Am 25. Januar waren zehn Angehörige des polytechnischen Instituts des Ural, acht Männer und zwei Frauen, zu einer Bergtour in den Nordural aufgebrochen. Ihr Ziel war ein Berg namens Otorten, was in der Landessprache des ugrischen Mansi-Volkes in etwa so viel bedeutet wie: "Bleib fern von dort!" Eine strapaziöse und anspruchsvolle Route, selbst für die erfahrenen und ausgebildeten Teilnehmer der Expedition. Nach mehrtägiger Fahrt mit Zug und Lkw erreichten sie Wischai, die letzte bewohnte Enklave im Norden der Oblast Swerdlowsk. Kurz vor dem Hochland musste ein Mitglied aus gesundheitlichen Gründen umkehren. Am 1. Februar geriet die Gruppe unter ihrem Anführer Igor Djatlow aufgrund schlechter Witterungsbedingungen vom Kurs ab und beschloss, bei Temperaturen von bis zu minus 30 Grad am Fuß des Cholat Sjachl ("Toter Berg") zu kampieren. Eine eigenartige Entscheidung - lag doch die sichere Baumgrenze nur wenig unterhalb der Lagerstätte.

Was in der folgenden Nacht genau geschah, darüber kann nur spekuliert werden. Wie in Lovecrafts Erzählung konnten die Ermittler weder Überlebende noch Augenzeugen finden. Dazu wurde das Unglück von einer Reihe merkwürdiger Umstände begleitet: Die Zelte waren wie in Panik von innen aufgeschlitzt worden. Die Wanderer hatten sie fluchtartig verlassen, zum Teil ohne Schuhe. Menschliche Fußspuren führten talwärts. Die ersten, bereits unter Bäumen gefundenen Opfer waren offenbar an Unterkühlung gestorben, doch die mehrere Hundert Meter weiter liegenden Körper wiesen Anzeichen extremer Gewalteinwirkung auf. Zwei Männer hatten geprellte Rippen, einer eine Schädelfraktur erlitten. Verletzungen "wie bei einem Autounfall", notierte einer der Ärzte im Untersuchungsbericht. Einer Frau fehlte sogar die Zunge. Dennoch: Keine dieser Verwundungen konnte die Todesursache sein; äußerlich waren die Leichen erstaunlich unversehrt.

Ein Angriff auf die Gruppe, etwa von den indigenen Mansi scheint damit ausgeschlossen, ebenso eine Bärenattacke. Auch ein interner Streit oder ein Wahnanfall, der womöglich zu einem Amoklauf hätte eskalieren können, sind wenig plausibel. Die Flucht vor einer Lawine wäre mit den Verletzungen in Einklang zu bringen, auch mit dem zerstörten Zelt und mit den fehlenden, in einem Fall auch vertauschten Kleidungsstücken der Fliehenden - es ist ein paradoxes, medizinisch belegtes Phänomen, dass manche Menschen kurz vor dem Tod durch Unterkühlung Hitzewallungen verspüren. Aber ein wichtiges Detail passt nicht zu dieser Theorie: Die Kleidung der Toten war radioaktiv überdurchschnittlich belastet, wie der Chefermittler Lew Iwanow später erklärte.

Vielleicht ist dies der Grund, weshalb die Untersuchungsakten rasch geschlossen und zum Teil bis heute nicht vollständig veröffentlicht wurden. Ganz gewiss jedoch waren die zahlreichen Ungereimtheiten und der Mangel an lückenloser behördlicher Aufklärung wesentliche Auslöser für die regen Fantasien alle jener, die mehr hinter dem Unglück vermuteten als einen tragischen, aber profanen Bergunfall. Einige Camper, die sich zum gleichen Zeitpunkt in der Region aufhielten, gaben an, blitzende Objekte am Firmament gesehen zu haben, und ein Zeuge des Begräbnisses sagte aus, die Haut der Leichen sei von unnatürlich braunem Farbton gewesen. Das befeuerte die Theorien, dass wahlweise Außerirdische oder militärische Geheimversuche der Auslöser für die Katastrophe waren. Zu den paranoiden Zeiten des Kalten Krieges klang die Entwicklung einer sowjetischen Superwaffe auf einem abgelegenen Testgelände, auf das sich neun Wanderer verirrt hatten, vielleicht gar nicht so hanebüchen. Ebenso wenig wie jene Erklärungsversuche, die besagten, dass die Skiwanderer auf entflohene Sträflinge aus geheimen Gulags in der Nähe stießen oder gar auf die Zolotaya baba, die goldene Frau, die als sagenhaftes Orakel in der Einöde haust.

Während die nach dem Unglück gegründete Djatlow-Stiftung sich um die kriminologische Wiederaufnahme des Falls bemühte, entdeckten andere den narrativen Nervenkitzel für sich. Bereits 1967 veröffentlichte Juri Jarowoi einen ersten Tatsachenroman über den Vorfall, "Der höchste Schwierigkeitsgrad", der sich aber vor allem der Tatsache sowjetischer Zensur beugen musste. Später kamen weitere, fast immer sehr spekulative Bücher hinzu; zuletzt 2013 "Mountain of the Dead" von Keith McCloskey. Doch auch der britische Autor kommt trotz viel Materials der Lösung des Rätsels nicht näher. "Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler", schrieb Goethe einst; der tote Berg wird sein Geheimnis wohl keinem Schüler mehr preisgeben.

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