Das Geheimnis:Ho-wer?

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Die zwei berühmtesten Epen der Antike werden ihm zugeschrieben - doch über die Identität des Autors Homer wird bis heute debattiert.

Von Johan Schloemann

Dürfen wir vorstellen: die rosenfingrige Morgenröte. Der männermordende Krieg. Der schnellfüßige Achilles. Der listenreiche Odysseus. Und dazwischen viele, viele Worte, die dem Gehege der Zähne entfliehen . . .

So klingt es am Anfang der abendländischen Literatur, in den beiden großen frühgriechischen Epen "Ilias" und "Odyssee". Es sind jene berühmten wiederkehrenden Formeln, die von dieser monumentalen, unerschöpflichen Dichtung am meisten im Gedächtnis bleiben - abgesehen natürlich von all den unvergesslichen Geschichten rund um den Krieg vor Troja und die Irrfahrten des Odysseus - etwa dem einäugigen Kyklopen; dem herzzerreißenden Abschied des trojanischen Helden Hektor von seiner Frau und seinem Kind; oder dem nach zwanzig Jahren heimkehrenden Krieger und Seefahrer Odysseus, der sich als Bettler verkleidet und dann zu allererst von seinem treuen, alten Hund wiedererkannt wird.

Wenn aber die ausschmückenden Formeln und die typischen Szenen - also gleich oder ähnlich lautende Standard-Schilderungen von Mahlzeiten, Opferritualen, Kampfsituationen - im kulturellen Gedächtnis so stark haften, dann deshalb, weil sie einst auch den Produzenten dieser Dichtung im Gedächtnis haften sollten. Denn die homerischen Epen, die je nach Forschungsmeinung früher oder später als 700 vor Christus entstanden, stammen ursprünglich aus einer mündlichen Sängertradition.

In einer schriftlosen Kultur musste der improvisierende Poet einen großen Stress aushalten: Seine Geschichte durfte nicht abreißen, und die Wörter mussten immer ins Versmaß passen, in diesem Fall ins "heroische" Versmaß, also den Hexameter, ohne dass der Dichter bei der Live-Komposition ins Stolpern kam. Dafür brauchte er, ohne schriftliche Grundlage, einen verlässlichen Vorrat an memorierten festen Elementen, die sich geschmeidig einbauen ließen. Mit diesen Poesiebausteinen konnte sich der Barde vom Improvisationsdruck entlasten, ja die Improvisation überhaupt erst möglich machen. Zum Beispiel eben mit der immer wiederkehrenden "rosenfingrigen Morgenröte". Verschiedene namenlose Dichter haben auf diese Weise Erzählungen von Helden und Göttern über Jahrhunderte tradiert - nicht ewig unverändert Wort für Wort, sondern in einer beweglichen Mischung aus Überlieferung und Erfindung. All das ist keine wilde Spekulation im Nebel der Frühgeschichte, es ließ sich vielmehr durch die vergleichende Untersuchung verschiedener schriftloser Kulturen plausibel machen.

Wenn aber nun die "Ilias" und die "Odyssee" auf eine anonyme mündliche Tradition, auf eine Art Dichterkollektiv zurückgehen - wer ist dann eigentlich "Homer", der diese Riesentexte in je vierundzwanzig Gesängen geschrieben haben soll? Dies ist die "homerische Frage", über die vor allem seit einer berühmten Schrift des deutschen Philologen Friedrich August Wolf aus dem Jahr 1795 ("Prolegomena ad Homerum") heftig diskutiert wird - schon die Weimarer Klassiker beteiligten sich an dieser Debatte.

Lange Zeit war man von der mündlichen Volksdichtung und von der Entdeckung der "Oralität" der Texte derart begeistert, dass aus dem Verfasser der beiden Epen bloß noch eine Art Lektor wurde oder ein Redakteur, also eine spätere, sekundäre Figur, die die Aufzeichnungen von diversen mündlichen Gesängen oder gar vom gesamten Epos als Text organisierte und ein wenig auch kompilierte. Mal setzte man den Zeitpunkt dieser Aufzeichnung auf die "homerische" Zeit an, also auf die archaischen Anfänge der griechischen Stadtkultur im 8. und 7. vorchristlichen Jahrhundert, als die Griechen gerade erst die Alphabetschrift vom Seefahrervolk der Phönizier übernommen und sie zu einem "richtigen" Alphabet mit Vokalen und Konsonanten gemacht hatten; oder man datierte die "Redaktion" von "Ilias" und "Odyssee" auf zweihundert Jahre später ins klassische Athen. Rezitatoren von Heldendichtung, Rhapsoden genannt, sollten die Überlieferung bis dahin lebendig gehalten haben.

"Ilias" und "Odyssee", Anfang der europäischen Literatur, kommen aus der Mündlichkeit

Inzwischen aber hat die international weitverzweigte Homerforschung die Texte so genau untersucht, dass sie mehrheitlich doch wieder von einem einzelnen Autor der Epen ausgeht, dem das Medium der Schrift bereits zur Verfügung stand. Zwar hat dieser sicher sprachliche und motivische Traditionen früherer mündlicher Sänger übernommen, aber die Komposition der beiden großen Erzählungen ist trotz einiger inhaltlicher Widersprüche so kunstvoll, dass die überlieferten Werke wohl doch aus einem Guss sind. Ein Indiz dafür sind die geschickten Rückblenden, Ausblicke und exemplarisch vorgeführten Konflikte, mit denen ein ermüdendes lineares Erzählen der jeweils zehn Jahre dauernden Handlung vermieden wird.

Wenn die Literaturgeschichte also den Autor "Homer" wieder hat, der im 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr. lebte - wer war er, woher stammte er? Das ist und bleibt heute so unklar wie schon in der späteren Antike, als sich diverse Städte und Inseln als Geburtsort des angeblich blinden Sängers bewarben. Der Dichter und Übersetzer Raoul Schrott wollte Homer nach Kilikien in der heutigen Südosttürkei versetzen, aber das hat die Forschung verworfen. Nicht unwahrscheinlich ist eine Herkunft aus Kleinasien, vielleicht rund um das heutige Izmir. Wohl war "Homer" ein Wanderpoet zur Unterhaltung von Aristokraten - so werden Dichter in den Epen beschrieben.

Aber es darf noch weiter gerätselt und gestritten werden: Wenn es doch Einzelschöpfungen sind - sind "Ilias" und "Odyssee" von einem oder von zwei Autoren? Und: Hat der Kampf um Troja einen historischen Kern, und wenn ja, welchen?

© SZ vom 16.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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