Das Geheimnis:Das Massaker von Eulau

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(Foto: imago)

Vor 4500 Jahren geschah ein furchbares Verbrechen. Unter den Opfern waren auch alle anwesenden Kinder. Und dann? Die von einer unbarmherzigen Übermacht Ermordeten wurden in für jene Zeit einmaliger Weise bestattet.

Von Harald Eggebrecht

Ein kleiner Weiler auf fruchtbarem Boden an der Saale, etwas höher gelegen gegen mögliche Hochwasser. Alles scheint friedlich zu sein, Frauen gehen ihren Beschäftigungen nach, Kinder spielen oder helfen mit. Nur zwei hochgewachsene Männer sind anwesend. Die anderen sind auf Jagd. Doch plötzlich stürmt eine Bande Bewaffneter aus der Deckung, eine Frau wird mit zwei gezielten Streitaxthieben auf den Hinterkopf getötet, eine andere von zwei Pfeilen - einer in den Unterbauch, einer direkt ins Herz - tödlich getroffen. Wie im Blutrausch werden alle Kinder erschlagen. Selbst die beiden herbeieilenden Männer haben keine Chance gegen die mordende Übermacht.

Acht Kinder, drei Frauen und zwei Männer wurden erbarmungslos niedergemacht

Das klingt so, als sei dies irgendwo im Wilden Westen zwischen feindlichen Indianervölkern geschehen. Doch dieses Massaker könnte sich so oder ähnlich Mitte des dritten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung in Eulau nahe Naumburg abgespielt haben; acht Kinder, drei Frauen und zwei Männer wurden dabei niedergemacht. Es verwundert nicht, dass selbstverständlich auch diese frühe Welt rüde Gewalt und blutige Auseinandersetzung kannte. Aber was die Archäologen der Vor- und Frühgeschichte 2005 in der Kiesgrube von Eulau entdeckten, war aus ganz anderen Gründen eine Sensation: In vier Gräbern waren die Getöteten bestattet, und zwar in einer Weise, die nicht nur die Wissenschaftler sofort besonders berührte, sondern jeden Betrachter bewegt, wenn er heute im Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte in Halle die dort in ihrer ursprünglichen Anordnung ausgestellten Skelettfunde sieht.

Diese Ermordeten waren nämlich nicht, wie es sonst bei Bestattungen in der jener Zeit rituell üblich war, nach Geschlecht getrennt und nach bestimmten Himmelsrichtungen in Hockerstellung niedergelegt worden: Frauen den Kopf nach Osten und den Blick nach Süden gerichtet, Männer mit dem Kopf nach Westen und dem Blick auch nach Süden. Hier in Eulau waren die Toten jedoch so sorgfältig und ungewöhnlich ineinander verschränkt gelagert, dass die Forscher sogleich verwandtschaftliche und emotionale Beziehungen zwischen ihnen in Betracht zogen. So liegt in einem Grab eine ganze Familie, Vater, Mutter und zwei Kinder, was bisher weltweit einmalig ist. Dem Vater ist der eine Sohn zugeordnet, Gesicht zu Gesicht, der Mutter der andere, nach gleichem Muster. In einem anderen Grab liegt eine Frau, in ihrem Rücken zwei Kinder, das dritte ruht mit dem Antlitz ihrem Antlitz gegenüber. Dem hünenhaften Mann im dritten Grab sind zwei Buben mitgegeben, einer schmiegt sich an seinen Rücken, der andere nah vor des Mannes Brust. Im vierten Grab befindet sich die von den Pfeilen Getroffene, gegenüber geradezu zärtlich angeordnet in Augenhöhe ein vier- bis fünfjähriges Mädchen, wahrscheinlich die Tochter.

Um die bis zu ihrer Entdeckung ungestörten Gräber genau untersuchen zu können, wurden sie im ganzen Erdblock gesichert und ins Labor gebracht. Ein interdisziplinäres Wissenschaftlerteam aus Archäologen, Paläogenetikern, Isotopenforschern für die Altersbestimmung, Anthropologen, Prähistorikern und sogar einem Profiler aus dem BKA ging nun daran, minutiös nicht nur die Kulturzugehörigkeit zu erforschen, sondern auch Knochen und Zähne nach Alter, Gesundheitszustand und Todesart zu untersuchen. Anhand der Strontiumwerte in den Zähnen konnte nachgewiesen werden, dass die drei Frauen ursprünglich aus anderen Gegenden stammten als dem Ort ihres gewaltsamen Todes. Die Spuren alter DNA ermöglichten es, die Verwandtschaftlichkeiten weitgehend zu klären.

Aus all diesen Forschungsergebnissen konnte ein möglicher Tathergang rekonstruiert und für die daraus folgenden Fragen eine schlüssige Hypothese gewagt werden: Wer waren die Täter und was war vielleicht das Motiv für die schreckliche Tat? War es ein gezielt feindlicher Akt oder ein Überfall aus beiläufiger Gelegenheit, weil nur zwei Männer im Weiler anwesend waren?

Konflikte gab es viele, ein Anlass konnte zum Beispiel Frauenraub sein

Zu dieser Zeit hatten sich zwei große Bewegungen in ganz Europa ausgebreitet: Von Marokko bis nach Ungarn und Großbritannien drang die Glockenbecher-Kultur vor, so genannt nach der typischen Form ihrer Keramikbecher. Von der Ukraine bis in die Schweiz waren es die Schnurkeramiker, die ihre Amphoren und Becher mit den Abdrücken gezwirnter Schnüre dekorierten. Die Eulau-Siedlung gehörte der Kultur der Schnurkeramiker an.

Daneben gab es im südlichen Sachsen-Anhalt, wo Eulau liegt, noch die Schönfeld-Kultur, die ihre Toten im Gegensatz zu den anderen verbrannte und die Asche in flachen Urnenschalen bestattete. Konflikte gab es aus vielerlei Gründen, das konnten Auseinandersetzungen zwischen Ackerbauern und Viehhaltern sein, Kämpfe um Rohstoffquellen oder auch Streit wegen Bevölkerungszunahme und der daraus resultierenden Konkurrenz zwischen Alteingesessenen und Neuen.

Die Vermutung liegt nahe, dass die Täter aus der Schönfeld-Kultur kamen, weil sie die dort gebräuchlichen querschneidigen statt dreieckiger Pfeile benutzten und die Wunden am Kopf der Frau nur mit den in der Schönfeld-Kultur gebräuchlichen Streitäxten beigebracht werden konnten. Es könnte aber auch sein, dass die Mörder diese Waffen einsetzten, um den Verdacht auf die Schönfeld-Leute zu lenken.

Jedenfalls laufen die kriminologischen Schlüsse auch des Profilers darauf hinaus, dass hier ein gut vorbereiteter Racheakt vollzogen wurde, wahrscheinlich weil die drei getöteten Frauen ihre Heimat verlassen hatten, um mit den Eulauern zu leben. Vielleicht waren sie auch von diesen einst unter Mord und Totschlag geraubt worden, doch blieben sie bei ihren Räubern, mit denen sie nun Kinder hatten. Gewiss haben die Eulauer nach der Bestattung der Ermordeten die Gewaltspirale aus Rache und Gegenrache weitergedreht.

Doch die Betroffenheit und die emotionale Bewegtheit, in der diese Toten mit zartfühlender Empfindsamkeit für ihre Beziehungen untereinander beerdigt wurden, kann man auch 4500 Jahre später noch immer nachvollziehen.

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