China:Comeback der vegetarischen Küche

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Chinakohl ist eine von mehr als 46 Gemüsesorten in China. (Foto: dpa)

Chinesen essen alles, was "vier Beine hat und kein Stuhl ist": So lautet das Vorurteil. Nur wenige wissen, dass ihre jahrtausendealte vegetarische Küche die vielseitigste der Welt ist.

Von Kai Strittmatter, Peking

Der steinzeitliche Pekingmensch ernährte sich fast ausschließlich von Fleisch, besonders gerne hatte er eine Hirschart mit dickem Geweih ( Sinomegacerus pachyosteus), die in der Folge als Spezies nicht überlebte. Der neuzeitliche, den mageren Jahren des MaoSozialismus entflohene Chinese denkt da ähnlich, er gibt sein Geld am liebsten aus für Fleisch und Fisch und für allerlei Merkwürdigkeiten, die ihm im Westen den Ruf eintrugen, alles zu essen, was "vier Beine hat und kein Stuhl ist".

Und während sich in Europa trotz der dort beheimateten Chinarestaurants mittlerweile herumgesprochen hat, dass man sich in China glückselig essen kann, ist eines noch kaum bekannt: China ist auch die Heimat der wohl raffiniertesten vegetarischen Küche der Welt. Und die erlebt gerade ein Comeback: Vor einem Jahrzehnt gab es gerade mal ein halbes Dutzend vegetarische Lokale in Peking, heute sind es wieder mehr als 70.

Es sind Lokale wie das "Baihe", die "Lilie", das sich in einem Hutong in der Oststadt versteckt, in einer alten Pekinger Gasse. Ein Hof, viel Licht, die gedämpften Klänge der chinesischen Zither, Regale voller Bücher: Buddhistisches, Konfuzianisches, Unternehmensratgeber. An der Wand Kalligrafien. "Es ist eine Haltung, ein eigener Lebensstil", sagt Xu Yefeng, der Manager. "Dass viele Chinesen die vegetarische Tradition unseres Landes wiederentdecken, hat auch mit ihrem Leiden an der heutigen Gesellschaft zu tun."

Jahrtausende lang unfreiwillig vegetarisch gelebt

Tatsächlich lebte die Mehrzahl der Chinesen über Jahrtausende hinweg vegetarisch, ohne eine Wahl zu haben: Die meisten Bauern waren schlicht zu arm, um sich Fleisch leisten zu können. "Bei uns zu Hause in Shanxi wurde einmal im Jahr ein Schwein geschlachtet, zum Frühlingsfest", erzählt etwa der 42-jährige Shenzhener Staatsanwalt Pu Feng. "Nur dann bekamen wir ein kleines Stück Fleisch. Wir auf dem Land sind alle als Vegetarier aufgewachsen, unfreiwillig."

Für all jene, denen es ein wenig besser ging, muss der vegetarische Lebensstil aber schon im alten China ein weit größerer Spaß gewesen sein als noch vor Kurzem für die Europäer auf ihrem Kontinent des überbackenen Blumenkohls.

46 gängige Gemüsesorten, darunter Knoblauch und Frühlingszwiebeln, Lotoswurzel und Wasserkastanie, zählte schon der Historiker Sima Qian vor 2000 Jahren; ein Jahrtausend später, während der frühen Song-Dynastie, lockten in Städten wie Hangzhou berühmte vegetarische Restaurants, oft waren es Tempellokale; und Chinas Kaiser hielten sich jeweils Dutzende vegetarische Köche, die imstande waren, Bankette mit 200 Gerichten aufzufahren.

Religion spielte eine wichtige Rolle. Der Ahnenkult, der zu Opferzeiten den Fleischverzicht verlangte. Der Daoismus, dessen Jünger auf der Suche nach Unsterblichkeit nicht nur auf Fleisch verzichteten, sondern auch auf die "fünf Getreidearten". Und vor allem der aus Indien nach China eingeführte Buddhismus, der Mönchen und Laien den Respekt vor allen Lebewesen lehrte und ihre Tötung untersagte.

"Essen ist des Volkes Himmelreich"

Es sagt nun einiges über China und seine Mönche, dass sie anders als etwa ihre bayerischen Artgenossen ihr spirituelles Streben nicht ins Brauen immer noch feinerer Sorten von Bier (oder Reiswein) sublimierten, sondern dass sie eineinhalb Jahrtausende lang an nichts anderes dachten als daran, wie sie ihre Tempelküche noch raffinierter gestalten könnten. "Essen ist des Volkes Himmelreich", so ist das in China. Und so erklommen die Küchenmönche Sprosse für Sprosse die Leiter fast überirdischer Vollkommenheit, bloß mit der Absage an Begierde und Gelüste wurde es irgendwann schwierig: Das Essen war einfach zu gut.

Den Köchen kam dabei zugute, dass sie nicht nur mit einer Vielzahl von Gemüsen, Kräutern und Pilzen hantieren konnten, die noch heute den meisten Europäern unbekannt sind, sie hatten - wohl seit dem Ende der Tang-Dynastie (618 bis 907) - mit der aus Sojabohnen hergestellten Proteinbombe Tofu einen Werkstoff von unglaublicher Wandlungskraft: wässrig, seidig, fest, trocken, knusprig, geräuchert, mariniert, frittiert. Tofu kommt in China in 1001 Formen auf den Tisch.

Die größte Meisterschaft erreichten Chinas Buddhisten dabei schon früh in einer Kunst, die bei vielen Vegetariern im Westen heute verpönt ist: in der Imitation von Fleisch und Fisch. Im vegetarischen Restaurant "Baihe" servieren sie deshalb eine Schweinshaxe mit Schwarte im Tontopf, an der auch im Münchner Augustiner so mancher seiner Freude hätte. Daneben stehen Lammfleischspießchen auf der Karte, knuspriges Hühnchen, Haifischflosse, Seegurke, flambierte Abalone (eine große Meeresschnecke), Aaleintopf mit Pilzen oder Schweinefleischbällchen mit Jadebambus - selbstverständlich alles rein pflanzlich.

Dass man an den Rippchen süßsauer wirklich zu nagen hat, dafür sorgen die aus fester Lotoswurzel nachgebildeten Knochen. Die "Rindfleischstreifen" im "Baihe" sind zart, der geschmorte Fisch kommt in einer scharfen Soße aus Chilis, grünem Pfeffer und eingelegtem Rettich. Die faltigschwarze Haut ist aus Seetang, sie verleiht dem faserigen Filet auch den fischigen Geschmack, vor dem Schmoren wurde der Fisch kurz in einem mit Anis, Blütenpfeffer und Lorbeerblatt versetzten Gewürzöl angebraten.

Für die Imitationen von Rindfleisch und Fischfilet wird nicht nur Tofu verwendet, sondern auch Weizengluten und verschiedene Wurzelmehle. Das auf Eis servierte Lachs-Sashimi etwa verdankt seine Konsistenz dem Mehl der Konjakwurzel. Und die Herstellung des in Sojasoße geschmorten "Dongpo-Schweinebauchs" erklärt Manager Xu so: "Für die Schwarte unten nehmen wir Tofuhaut, die Fettschicht darüber machen wir aus dem Mehl der Yamwurzel und das Fleisch ganz oben ist dann eine Mischung von Pilzen und dem Kuchen, der beim Pressen von Erdnussöl übrig bleibt."

Keine Ausbildung in vegetarischer Küche

Ein Problem für die Restaurants ist das Fehlen ausgebildeter Köche. Bald nachdem Mao Zedong und seine Kommunisten 1949 an die Macht gekommen waren, attackierten sie die Tempel und Klöster, versuchten, den Buddhismus aus dem Leben der Chinesen auszuradieren. Mit der Religiosität verschwand auf dem Festland die Tradition der vegetarischen Küche.

Lebendig blieb sie all die Jahre in Taiwan, wo man an jeder Straßenecke billige und köstliche vegetarische Buffets findet. "Es gibt in Chinas Kochschulen heute keine professionelle Ausbildung in vegetarischer Küche", sagt Xu. "Wir trainieren die Köche deshalb selbst. Wenn wir ihnen sagen: 'Nehmt weniger Öl und Salz, keine Zwiebeln und keinen Knoblauch', dann fragen sie uns anfangs erstaunt: ,Schmeckt das?'"

Lauchpflanzen wie Knoblauch und Zwiebel sind in der Tempelküche traditionell tabu. "Isst man sie gekocht, erregen sie sexuelle Lust", heißt es in dem Shurangama Sutra. "Isst man sie roh, dann schüren sie den Ärger." Die eng mit dem Vegetarismus verbundene Tendenz zur Askese findet sich also auch in China, bloß kommt ihr dort immer die unbändige Lust aufs Essen in die Quere. Und so fehlen zwar Knoblauch und Zwiebel, dafür finden sich bei den meisten vegetarischen Restaurants Ingwer, Pfeffer und Chilis in rauen Mengen. Von wegen: kein Kitzel, keine Begierde.

Vegetarismus und Buddhismus gehören zusammen

Die Renaissance der vegetarischen Küche in Peking und anderen Städten Chinas hat mehrere Gründe. Die rasende Entwicklung der letzten Jahre hat nicht wenige Leute erschöpft. Die Gier des neureichen China, die Völlerei seiner Kader stößt viele ab. Gleichzeitig hinterließ der Zerfall der kommunistischen Ideologie ein Wertevakuum, das einer Wiedergeburt alter Religionen und Traditionen den Weg ebnet. Die meisten vegetarischen Restaurants sind buddhistisch angehaucht. Das "Baihe" ist die Ausnahme: Hier thront Konfuzius in der Eingangshalle, vor Arbeitsbeginn tritt das Personal an zum Studium alter konfuzianischer Klassiker.

Und noch eines kommt dazu: In China jagt seit Jahren ein Lebensmittelskandal den anderen. "Die Menschen haben völlig das Vertrauen verloren in das, was ihnen verkauft oder serviert wird", sagt Huang Guoyu, ein 38-jähriger Ingenieur und Stammgast im "Baihe". "Fisch und Fleisch sind besonders verseucht." Viele vegetarische Lokale werben mit organischer Küche, ein weiteres Argument für die Chinesen, denen der Körper schon immer ein Tempel war und denen das Essen gleichzeitig Medizin ist. "Krank wird man durch den Mund", sagt Manager Xu.

Je reifer der Vegetarier, desto simpler die Speise

Es ist schick, zum Vegetarier zu gehen. Viele Promis tun es, ab und an sogar die ihrer Seegurken- und Schwalbennest-Bankette überdrüssigen Parteikader. Langweilig wird einem nicht beim Vegetarier-Hopping in Peking. Man kann für ein paar Euro im rustikalen "Xuxiangzhai" beim Konfuziustempel das Buffet essen oder ein paar Hundert Meter weiter nördlich im edlen Hofrestaurant "King's Joy" (Jing Zhao Yin) das Vielfache ausgeben für moderne vegetarische Fusionküche.

Man kann ähnlich exklusiv speisen im "Pure Lotus" (Jing Xin Lian), wo über den Tischen Kunstnebel und in den Speisekarten Buddhakitsch wabert, wo falsche Mönche korrupte Kader und Touristen neppen, man kann aber auch am ersten und fünfzehnten eines jeden Monats im Mondkalender in den Fayuan-Tempel in der Weststadt gehen und mit echten Mönchen das Tempelmahl teilen.

Und wenn man mal dabei ist, könnte man dann den Weg gehen, den so mancher von Xus Gästen gegangen ist: "Am Anfang steht der Kitzel, da genießen viele unsere aufwendig zubereiteten falschen Fleischgerichte. Je reifer der Mensch dann wird, um so simpler werden die Speisen, die Gewürze werden weniger, am Ende wollen manche nur noch, dass wir ihnen ihr Gemüse in Wasser dünsten." Wäre eine Möglichkeit. Aber wieso sollte man?

Restaurant-Tipps:

Baihe/Lily's Vegetarian: charmantes, altes Pekinger Hofhaus, 23 Caoyuan Hutong, Dongcheng Bezirk, Beijing, +86 10 6405 2082

Xu Xiang Zhai: mittags und abends großes und billiges Buffet, direkt bei Lama- und Konfuzius- tempel, 26 Guozijian Straße, Dongcheng Bezirk, Beijing, +86 10 6404 6568

Gongdelin: ein Klassiker, ältestes vegetarisches Lokal der Stadt, gegründet 1922, 2 Qianmen, Dongcheng Bezirk, Beijing, +86 10 6511 2542

Jing Zhao Yin/King's Joy: edles, modernes Hofhaus beim Lamatempel, international beeinflusste Küche, etwas teurer, 2 Wudaoying Hutong, Dongcheng Bezirk, Beijing, +86 10 8404 9191

© SZ vom 23.11.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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