Buntmalerei:Ausgezeichnet

Malbücher sind der Trend des Jahres, nicht nur für Kinder. Aber woher kommen eigentlich die schönen Stifte? Zu Besuch bei Caran d'Ache in Genf.

Von Charlotte Theile

Du machst was? Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt, als würde sie sich überschlagen. Wow, bringst du mir was mit, das ist so cool. Das Wort fällt in den Tagen vor dem Besuch in der Stifte-Fabrik immer wieder, langsam gewöhnt man sich daran. Freunde und Bekannte sind begeistert. Cool, supercool, Wahnsinn. Buntstifte.

Noch vor ein paar Jahren lagen sie in wildem Durcheinander in den Wartezimmern überfüllter Arztpraxen, verstaubten in Bastel-Kisten mit der Aufschrift "Kindergottesdienst". Heute sieht man erwachsene Menschen, die im Zug gedankenverloren Mandalas kolorieren oder in grellem Orange den Streit im Büro verarbeiten.

Am Ende der Session werden die Stifte ordentlich in die rote Metallschachtel mit der Aufschrift "Artist" gelegt, zumindest, wenn man etwas auf seine Ausstattung hält. Die Stifte der Schweizer Firma Caran d'Ache liegen preislich ganz oben in der Angebotspalette. Eine kleine rote Schachtel, zwölf Farben, die sich mit Wasser verwischen lassen, kostet etwa 20 Euro; wer mehr Auswahl will, landet schnell bei richtig hohen Beträgen. Doch immer mehr Menschen sind bereit, das auszugeben: Das Unternehmen musste in den letzten Jahren einige Anstrengungen unternehmen, um die Nachfrage bedienen zu können.

Ein weißer, schmuckloser Gebäudekomplex im Genfer Vorort Thônex, direkt an der Grenze zu Frankreich. Auf den ersten Blick könnten hier auch Waschbecken produziert werden. Wenn da nicht der Geruch wäre. Es riecht nach Bleistift, nach Kunstunterricht, nach schnell hingekritzelten Hausaufgaben im Kinderzimmer. "Kalifornisches Zedernholz" sagt Carole Hübscher, eine 49-jährige Frau in dunkelblauem Kostüm und auffälliger Halskette, die das Unternehmen in der vierten Generation leitet. "Wir verwenden immer das Gleiche." Damit das Holz auf keinen Fall ausgeht, stapeln sich im Lager die Vorräte.

Carole Hübscher, Chefin von Caran d’Ache

"Wenn ich eine Karte bekomme, hebe ich die auf. Genauso geht es vielen mit den Mandalas. Sie sind stolz auf das Ergebnis, zeigen es herum, hängen es auf."

Vier Jahre ist es erst her, dass Hübscher in einem Geschäft in London Ausmalbücher für Erwachsene entdeckt hat. "Sie sahen so schön aus, ich war völlig fasziniert", sagt sie. Damals hatte sie das 1915 gegründete Unternehmen gerade erst von ihrem Vater Jacques übernommen. "Vor dem weißen Blatt Papier haben die meisten zu viel Respekt." Bestes Heilmittel für gestresste Zeitgenossen: Mandala-Bände, die in der Apothekenumschau begeistert besprochen werden und in deren Titeln unzählige Variationen von "Meditation" und "Achtsamkeit" verwoben sind.

Inzwischen hat auch Caran d'Ache ein Ausmalbuch für Erwachsene im Angebot: Kunstvolle Berglandschaften, Kreisel, in denen sich Edelweiß zu drehen scheint, ein Hirsch, dessen Geweih sich in unendlichen Verästelungen Richtung Himmel schlängelt. Perfekt, um den Stift wie absichtslos übers Papier streifen zu lassen. Eine Kuh nach der anderen wird ausgemalt, eine pink, eine blau, die Falken darüber giftgrün. Ein schwarzer Himmel senkt sich - vermischt mit etwas Wasser und loderndem Orange - über die Szenerie. Armageddon statt Alpenromantik.

Warum die Menschen plötzlich wieder malen wollen? Carole Hübscher glaubt, die Antwort zu kennen. "Auf jede extreme Bewegung folgt eine Gegenbewegung." In den letzten Jahren haben wir uns daran gewöhnt, alles auf dem Display zu erledigen. Der Schnappschuss per Whatsapp hat die Urlaubskarte ersetzt, dem Fotoalbum ging es ebenso, der Weihnachtspost, dem handgeschriebenen Brief. "Wir machen nichts mehr mit unseren Händen" sagt Hübscher. Viele haben das Gefühl, das dabei etwas verloren gegangen ist, glaubt sie: "Wenn ich eine Karte bekomme, hebe ich die auf. Genauso geht es vielen mit den Mandalas. Sie sind stolz auf das Ergebnis, zeigen es herum, hängen es auf."

Buntmalerei: Malbücher für Erwachsene bieten wunderbare Motive, um sich zu verlieren und zu finden.

Malbücher für Erwachsene bieten wunderbare Motive, um sich zu verlieren und zu finden.

(Foto: Benoit Linero)

Die Gleichung ist einfach. Wer den ganzen Tag auf den Computer starrt, stellt am Abend fest, dass er nichts in der Hand hat. Der Bildschirm sieht genauso dunkel aus wie am Morgen, bevor man ihn angeschaltet hatte. Zwei leere Tassen auf dem Schreibtisch und der Blick in den Spiegel überzeugen einen davon, dass man tatsächlich acht Stunden gearbeitet hat. Besonders befriedigend ist das nicht.

"Wenn man Kindern ein Tablet in die Hand gibt, hat das auf den ersten Blick den gleichen Effekt wie ein Blatt Papier und bunte Stifte. Das Kind ist ruhig." Carole Hübscher zwirbelt einen glänzenden Kugelschreiber durch die Luft. "Wenn ein Kind malt, kommt es nach einer halben Stunde stolz mit einem Bild zu Ihnen. Wenn es am Tablet spielt, haben sie stundenlang Ruhe. Aber sobald es das Tablet weglegen muss, wird es aggressiv."

Erwachsene würden Ähnliches bei sich beobachten. "Malen ist für viele Entspannung pur", sagt Hübscher. Sie habe erst kürzlich einer Gruppe Manager einer großen Bank etwas zum Ausmalen mitgegeben. "Ich warte noch auf das Feedback", sagt Hübscher. Fest steht: Auch in der Produktion, durch die ein pensionierter Mitarbeiter führt, spürt man den Stolz, an etwas Echtem zu arbeiten. Von den gut 300 Mitarbeitern, die bei Caran d'Ache beschäftigt sind, arbeiten fast alle in Thônex bei Genf. Bis auf einige Chemiker u

Das Schreiben mit der Hand ist auch ein Akt der Unabhängigkeit, der Freiheit

Auch viele der Maschinen, die sich der Pensionär Nicolas Muller zum Teil selber ausgedacht hat, sind Sonderanfertigungen. Sie pressen Pigmente, Wasser und Bindemittel und formen dünne Farbwürstchen, die sich dann in ein Holz-Sandwich einpassen. Ein faszinierendes Schauspiel. Dazu Wasserfarbe, Aquarell, Kreide. Dass Caran d'Ache eine französische Abwandlung des russischen Wortes für Bleistift ist, vergisst man dabei fast. 1924 erhielt das Unternehmen diesen Namen.

Buntmalerei: Buntstift-Produktion in Thônex.

Buntstift-Produktion in Thônex.

(Foto: Charlotte Theile)

Bis heute werden alle Produkte in Genf gefertigt, selbst Kugelschreiber und Füllfederhalter. Auch hier will man im obersten Segment spielen. Etwa mit diamantbesetzten Sonderanfertigungen, die so viel kosten wie die Luxuszeitmesser der nahegelegenen Uhrenindustrie, mit persönlichen Gravuren und echtem Gold. Die Konkurrenz heißt auf diesem Gebiet nicht mehr Faber-Castell sondern Montblanc. Der Trend zum Handgeschriebenen zeigt sich auch hier: Ein edler Füllfederhalter erlebt eine Renaissance - nur dass er heute nicht mehr zum Abitur, sondern zum vierzigsten Geburtstag verschenkt wird.

Zahlen zu Umsatz und Gewinn nennt die Caran d'Ache-Chefin nicht. "Wir müssen diese Zahlen als Familienunternehmen nicht veröffentlichen", sagt Hübscher. Ohne Not wolle sie der Konkurrenz nicht in die Hände spielen. Billiger könne sie nie sein. Trotz hoher Löhne soll die Produktion in der Schweiz bleiben. "Swiss Made", das gehört zum Kern der Marke.

Nicolas Muller will beim Rundgang durch die Fabrikhallen demonstrieren, was die Firma im buchstäblichen Sinne auszeichnet. Nur perfekte Stifte dürfen das Lager verlassen, beim kleinsten Kratzer werden sie verbrannt. Zudem werden nur ungiftige Stoffe verwendet. Wer auf dem Stift herumkauen will, kann das tun. Eine Mitarbeiterin ist nur dafür verantwortlich, die hauseigenen Maskottchen, Igel und Bär, die als liebevoll gefertigte Automaten-Puppen allen Schweizer Kindern bekannt sind, dezent anzukleiden. Fast jeder Mitarbeiter wird von Muller persönlich begrüßt.

Wenn Caran d'Ache ein Geheimnis hat, ist es vermutlich die Sorgfalt, gepaart mit Traditionsbewusstsein. Jeder Stift, jede Farbe kann ersetzt werden. Carole Hübscher erzählt gern, dass die Nachfahren von Picasso heute sein Lieblingsrot bestellen können, dass Gorbatschow und Reagan das Ende des Kalten Krieges mit einem Caran d'Ache Stift besiegelten.

Die Botschaft der Firmen-Erbin aber ist eine andere. Sie hebt ihren Kugelschreiber in die Höhe und sagt laut: "This is freedom!" So lange die Menschen Stift und Papier hätten, gebe es Meinungsfreiheit, Publikationsfreiheit. Wenn man Kindern nicht mehr beibringe, mit der Hand zu schreiben und zu zeichnen, werde das Folgen haben. Wer einen Computer braucht, um zu kommunizieren, sei dagegen abhängig: vom Internet, vom Strom. Er sei anfällig für Hacker, abhörbar für Gegner und Geheimdienste. Das handgeschriebene Wort dagegen sei unmittelbar, kaum zu kontrollieren.

Große Worte. Auf Künstler und Karikaturisten mag das alles zutreffen. Für die meisten Kunden sind Buntstifte und Mandalas aber wohl doch eher eine Möglichkeit, sich auf ihr Innenleben zu konzentrieren, zeichnend und malend zu sich zu finden und zur Ruhe zu kommen.

Bei Caran d'Ache sind sie kürzlich auf einen weiteren Trend aufgesprungen: Auf der Wiese vor dem Haus leben jetzt Bienen, ein Teil des Wachses wird in der Produktion verwendet, der Honig soll köstlich sein. Die Marketing-Beauftragte klingt fast ein wenig genervt, als sie sagt: "Imkern. Auch das machen jetzt alle meine Freunde."

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