Lippenstift-Produktion:Farbe für den Kussmund

Lippenstift-Produktion: Rote Pigmente sind die Grundlage jeder Farbnuance.

Rote Pigmente sind die Grundlage jeder Farbnuance.

(Foto: Roberta Valerio)

Der Lippenstift war Symbol der Emanzipationsbewegung und gilt als Gradmesser der Wirtschaftslage: ein Besuch im Produktionszentrum von Yves Saint Laurent.

Von Tania Messner

Er ist nur eine kleine Rolle aus Wachs, Öl und Farbpigmenten, schön verpackt und handlich. Erst wenn er aufgetragen ist, bekommt der Lippenstift Bedeutung. Er macht seine Trägerin zu etwas Besonderem. "Rote Lippen sind seit jeher ein Symbol für Gesundheit und Fruchtbarkeit", schreibt die britische Psychotherapeutin Lucy Beresford.

Die Frauenrechtlerinnen Elizabeth Cady Stanton und Charlotte Perkins Gilman trugen schon im frühen 19. Jahrhundert leuchtend rote Lippen, um für das Wahlrecht zu demonstrieren. Sie erklärten Lippenstift zu einem Symbol der Emanzipation. Der "Lipstick effect" spiegelt angeblich sogar die Wirtschaftslage wider: Droht eine Rezession, steigen die Verkaufszahlen für Lippenstift, da Frauen ihre Stimmung mit einer relativ erschwinglichen Anschaffung heben wollen.

Auch in der eher kargen Region Picardie hängen Lippenstift und Wirtschaftslage zusammen. Dort, eineinhalb Autostunden von Paris entfernt, liegt das Produktionszentrum für Lippenstifte von Yves Saint Laurent.

Besuche vom menschenscheuen Laurent

Lässt man die Ziegelsteinhäuschen in Lassigny hinter sich, fällt es schwer, sich Yves Saint Laurent und seinen Lebensgefährten Pierre Bergé in den Siebzigerjahren auf dem Weg in ihre Fabrik vorzustellen. "Manche der Arbeiter erinnern sich noch an ihre Besuche", sagt Caroline Negre, seit vier Jahren wissenschaftliche Leiterin der Luxusmarke. "Monsieur Laurent war sehr menschenscheu und mehr am Design als an industriellen Prozessen interessiert."

Die schlechten Straßen zur Fabrik kennt die Biotechnologin gut, zweimal im Jahr besucht Negre die Produktion. Während man im Auto durchgeschüttelt wird, zieht sie entspannt ihre Lippen nach, mit der hautfarbenen Nuance "Nude in Private" aus der Linie "Rouge Volupté Shine". Mit Journalisten kommt sie das erste Mal hierher, normalerweise öffnet der Konzern seine Werkstore nicht. Die Anlage mit ihren 500 Arbeitern scheint nicht so recht zum glamourösen YSL-Kosmos zu passen.

Hysterisch gefeiert

Das "Beauty, Research & Industry-Center" wird heute noch als historische Fabrik bezeichnet - dabei ist es ein 45 000 Quadratmeter großer Lamellenkomplex mit Metallzaun, der sich in die Wiesen zu drücken scheint, als wolle er nicht auffallen.

Als die Anlage 1966 eröffnet wurde, hatte Yves Saint Laurent bereits seinen lebensverändernden Nervenzusammenbruch hinter sich, ausgelöst von der Einberufung zum Algerienkrieg. Im Jahr der Fabrikgründung wurde der damals 30-Jährige mit eigenem Couture-Haus schon wieder hysterisch von der Modepresse gefeiert, für seine geometrischen Mondrian-Kleider, den ikonischen Frauensmoking. In Lassigny findet man erst auf der Rückseite einer der Hallen das berühmte Logo des Designers.

Das erste Produkt, das hier über die Fließbänder lief, war der Damenduft "Y". Auch für andere Luxusmarken der L'Oréal-Gruppe, zu der die Kosmetiklinie von Saint Laurent seit 2008 gehört, wird hier produziert - etwa Giorgio Armani oder Viktor & Rolf.

Im Werk riecht man den Lippenstift schon, bevor man ihn sieht. Besucher bekommen weiße Kittel übergezogen und müssen schwere Schuhe mit Gummisohlen und Schutzbrille tragen. So zierlich und zart duftend ein Rouge à lèvres von YSL ist - hinter den Metalltüren wird es vor allem: laut. Wie ein gigantischer Küchenmixer aus Edelstahl thront eine Schmelzmaschine auf einem Podest: der "Fonduar" . Darin werden gerade die Inhaltsstoffe für 80 Kilogramm Lippenstift vier Stunden lang erhitzt und angerührt.

Der aufwendige Herstellungsprozess

Die kreative Arbeit ist zu diesem Zeitpunkt längst abgeschlossen. Lloyd Simmonds, der leitende Make-up-Artist bei YSL, war dafür Monate zuvor in den Werkstätten in Chevilly im Süden von Paris. Er hat den Wissenschaftlern dort Zeichnungen, Ausrisse, Stoffe und Fotografien mitgebracht, die ihn zur neuen Lippenstift-Kollektion inspiriert haben.

Sogar Schmucksteine und interessant kolorierte Gläser hat er den Experten überlassen, als Farb-, Glanz oder Transparenz-Vorlagen. Für die Serie "Vernis à Levres", übersetzt Lippenlack, untersuchte ein Biotechniker beispielsweise den Überzug von Smarties - weil Simmonds die glänzende Oberfläche der Schokoladendragees gefiel.

Das Wachs stammt von Büschen aus Mexiko

Was folgt, ist ein aufwendiger Prozess. Die sogenannten Coloristen mischen in den Labors die gewünschten Farbtöne aus nur zwölf verschiedenfarbigen Pigmenten. Aus diesem Bausatz lässt sich eine erstaunliche Vielfalt aller erdenklichen Rot-, Orange-, Pink-, Fuchsia- und Braunnuancen kreieren, dazu das Spektrum der hautfarbenen Nude-Schattierungen - genau so, wie ein Künstler seine Farben auf einer Palette anmischt.

Nach der Abnahme durch Simmonds und sein Marketing-Team gehen die exakten Formeln erneut an ein kleines Labor, werden nochmals zerlegt und mithilfe von Invitro-Tests untersucht. Erst wenn sichergestellt ist, dass die Formel hautfreundlich ist und in großer Menge produziert werden kann, gelangt sie in die Hallen von Lassigny.

Dort werden im kolosshaften Fonduar gerade die Rohstoffe für "Rouge Pur Couture, Nr.13" erhitzt - eine Emulsion aus Wasser, Ölen und Wachsen. YSL benutzt hauptsächlich Candelilla-Wachs, das aus den Blättern und Stängeln eines nordmexikanischen Busches gewonnen wird.

Die Herstellung gleicht einer Wissenschaft

Bevor die Pigmente zu der Mischung in den Großmixer kommen, werden sie versetzt mit verschiedenen Schimmer- und Glanzpartikeln, die kleiner als ein Staubkorn sind und die Farbe auf den Lippen später perlmuttartig schimmern lassen, feucht oder intensiv wie Autolack - ganz nach dem Wunsch der Kundin.

Glossy, also hochglänzend, lieber nur mit einem mädchenhaften Hauch Farbe oder von matter Eleganz? Allein die Beschreibungen der Textur moderner Lippenstifte machen deutlich, dass sich die Herstellungsverfahren zu einer regelrechten Wissenschaft entwickelt haben. Und die technischen Neuerungen kommen oft von den Rohstofflieferanten.

Die Glimmerpartikel etwa, die man mit bloßem Auge nur sehen kann, wenn sie zu einem kleinen Berg aufgehäuft sind, werden synthetisch hergestellt und sind dadurch reiner als die mineralische Variante. Mithilfe von Nanotechnologie können die Mikroteilchen inzwischen sogar ummantelt werden, dadurch reflektieren sie einfallendes Licht noch besser.

Strenge Kontrollen

Lippenstift ist das intimste Make-up-Produkt. Er kommt einer Frau näher als Cremes, Lotionen oder ein Duft. Man trägt ihn auf dem Mund, man hinterlässt Spuren an Gläsern, küsst damit, schluckt kleine Teile davon. Keine Frau wird sich mit einem Farbton auf den Lippen wohlfühlen, der ihr nicht wirklich gefällt. Und es geht auch um Hautverträglichkeit.

Deshalb werden die zertifizierten Farbpigmente von den Rohstoff-Experten bei YSL ein zweites Mal kontrolliert. Erst dann werden sie mit den Glanzpartikeln vermengt und kommen gemeinsam mit Vitaminen, Konservierungsstoffen und Anti-Oxidantien in die Schmelzmaschine. Die genaue Formel? Anne-Charlotte Peru lächelt. Die ist geheim.

Lippenstifte im Sekundentakt

Peru, seit fünf Jahren im Produktionsteam in Lassigny, wacht am Fonduar darüber, dass der Ton für jeden einzelnen Lippenstift genau stimmt - das sogenannte Colour Management ist einer der sensibelsten Produktionsschritte. "Für ein farbechtes Ergebnis ist die Dauer der Erhitzung entscheidend", erklärt Peru. "Ebenso wichtig sind die exakte Temperatur und die Abkühlungs-Phase der Paste." Madame Peru trägt einen fuchsiafarbenen Lipgloss aus der "Lip Lover"-Kollektion von Lancôme, der ebenfalls hier produziert wird.

Wenn die Masse nach ungefähr vier Stunden fertig angerührt ist, füllt Peru eine kleine Menge zur Farbkontrolle in die zwölf Ausbuchtungen einer Lippenstift-Form aus Metall und lagert sie zum Aushärten eine Stunde bei Raumtemperatur. Ist die Paste abgekühlt, löst sie die handgemachten Lippenstifte heraus.

Der erste Hautkontakt: ein fünf Zentimeter langer Lippenstiftstrich auf Anne-Charlotte Perus Unterarm, sie vergleicht die Farbe mit einem bereits fertig produzierten Lippenstift in der exakten Nuance. Jalil Haider, ein Kollege von Peru, arbeitet bereits seit 15 Jahren hier. "Natürlich hat mich die Arbeit mit Lippenstiften sensibilisiert", sagt er. "Ich kann selbst abends im Restaurant nicht wegsehen, wenn ich Frauen mit interessanten Lippenstiftfarben bemerke."

Stapelweise Kosmetika

Um den Schmelzpunkt der Lippenstift-Proben zu messen, werden sie in einem schuhschachtelgroßen Gerät mit feinem Metallfaden durchschnitten. Sehr hart heißt, dass der Lippenstift bei einer Temperatur von 45 Grad schmilzt, sehr weich, dass er nur bis 25 Grad stabil bleibt - erst wenn alle Proben positiv sind, wird die gesamte Masse aus dem Fonduar in Fünf-Kilo-Boxen aus Kunststoff abgefüllt, die aussehen wie Formen für Marmorkuchen.

Natürlich kann man gerade im Werk von Lassigny sehen, dass keines der Produkte, die Frauen überall auf der Welt in duftenden Parfümerie-Läden wie kleine Kostbarkeiten über Verkaufstresen gereicht werden, Einzelstücke sind. Über ein acht Meter langes Fließband fahren gerade randvolle Flakons mit "Figuier Eden" von Giorgio Armani wie kleine Zinnsoldaten vorbei.

Hunderte Abfüll-Maschinen unterteilen die gewaltige "Filling&Packaging"-Halle, Arbeiter in weißen Kitteln kontrollieren Bildschirme und justieren die Anzeigen. Dazwischen stapeln sich Kartons mit Lipgloss, Düften oder Puder auf riesigen Paletten. Jeden Tag werden hier 30 000 Lippenstifte für YSL hergestellt. Acht Kilo Paste ergeben 1500 Lippenstifte. Pro Minute entstehen also zwischen 30 und 40 Lippenstifte. Es geht um Massenanfertigung.

Die Lieferkette reicht bis zu den Lippen der Kunden

Andererseits ist gerade der enorme Aufwand für diesen kleinen, handlichen, vertrauten Begleiter im Kosmetiktäschchen beeindruckend. An einer der Maschinen werden nun die Fünf-Kilo-Blocks aus dem Fonduar in eine 13 Meter lange Produktionskette eingespeist. Der leuchtend orangefarbene Quader wird wieder verflüssigt, automatische Spritzen pumpen die Paste in je 36 Silikonpatronen - kleine Negative der fertigen Lippenstifte, samt schräger Spitze und YSL-Logo.

Zangen fischen die ausgekühlten Stifte aus den Silikontaschen und montieren sie kopfüber auf die goldenen Drehgehäuse. Fehlerhafte Modelle werden auf dem Fließband aussortiert, alle anderen Lippenstifte mit Log-Nummern versehen, und feine Roboterarme, die aussehen wie Miniaturlastkräne, setzten schließlich die Deckel auf.

Am Ende der Produktionskette werden die fertigen Lippenstifte samt Beipackzettel mechanisch in die verheißungsvoll goldglänzenden Kartonagen verpackt und exakt zu je 71 Stück in "Rouge Pur Couture"-Kartons gestapelt. Die fertigen Paletten kommen ins Lager und gelangen von dort per Lastwagen, Flugzeug oder Schiff an ihren Bestimmungsort. Auf die Münder der Frauen, für die jeder einzelne Lippenstift etwas sehr Besonderes ist.

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