Architektur:Heilende Häuser

Architektur: Räume der Zuflucht: Der Entwurf von Nickl&Partner für das neue Kinderkrankenhaus auf dem Gelände des Münchner Uniklinikums Großhadern.

Räume der Zuflucht: Der Entwurf von Nickl&Partner für das neue Kinderkrankenhaus auf dem Gelände des Münchner Uniklinikums Großhadern.

(Foto: Nickl & Partner Architekten AG)

Die Münchner Architektin Christine Nickl-Weller hat weltweit die Bauweise von Kliniken geprägt. Mit Krankenhäusern, die ihrer eierschalenfarbigen Tristesse-Tradition zum Trotz eher Gesundheitshäuser sind - und so dem Umfeld des Krankseins Schönheit abgewinnen.

Von Gerhard Matzig

In der Lindberghstraße im Münchner Norden wird es früh dunkel an diesem späten Winternachmittag, was auch gut so ist, denn ... wie soll man das jetzt sagen? Vielleicht so: Kennst du ein Gewerbegebiet, kennst du alle Gewerbegebiete.

Gut also, wenn die kalt hereinbrechende Nacht all das verschluckt, was man als typischen Gewerbegebiet-Würfelhusten diagnostiziert. Wobei das Haus mit der Nummer 19 in der Lindberghstraße dem Umfeld zum Trotz so strahlend hell und einladend illuminiert ist, als sei das nicht die Adresse des Münchner Architekturbüros Nickl & Partner, sondern eine rettende Insel im dunklen Meer des architektonischen Elends.

Vielleicht merken wir uns beide Begriffe hier schon mal: "Insel" und "dem Umfeld zum Trotz". Letzteres könnte durchaus das Motto eines Büros sein, das ausweislich der Baunetz-Rankingliste unter den einhundert wichtigsten Architekturbüros der Welt einen staunenswerten achten Rang behauptet. Wenn man das Ranking aber eingrenzt auf Bauwerke der "Gesundheit", so gibt es eigentlich schon seit etlichen Jahren nur eine Nummer eins, nämlich Nickl & Partner. Architektur, die heilsam ist, das ist es, woran man hier arbeitet. Von München aus weltweit. Und weltweit erfolgreich.

Nickl & Partner, worunter zunächst einmal Hans Nickl und Christine Nickl-Weller, dann aber auch noch mehr als 150 Mitarbeiter zu verstehen sind: Das sind die, die dem Umfeld des Krankseins wie zum Trotz Schönheit und Qualität abgewinnen. Das sind die, die Krankenhäuser ihrer eierschalenfarbigen Tristesse-Tradition zum Trotz so bauen, als sollte man zu ihnen lieber Gesundheitshäuser sagen. Das sind die, die etwas können, was ziemlich selten ist - funktionale Räume so geschickt zu entwerfen, dass man darin jenseits der Funktionen nicht nur heil, sondern am Ende auch gesund werden kann. Die einsame Insel ist deshalb ebenfalls ein Bild, das man sich an dieser Stelle merken kann. Im Reich des Gesundheitswesens ist das Ehepaar Nickl eine fast schon singuläre, ja inselhafte Erscheinung.

Außerdem sagt Christine Nickl-Weller beim Gespräch in der Lindberghstraße jetzt erst mal etwas, was sowieso aufhorchen lässt: "Wie soll man denn eigentlich gesund werden, wenn man jeden Tag um sechs Uhr in der Früh geweckt wird?" Die 66-jährige Architektin, die sich in diesen Tagen nach bald anderthalb Jahrzehnten von ihrem Lehrstuhl für das "Entwerfen von Krankenhäusern und Bauten des Gesundheitswesens" an der Technischen Universität in Berlin verabschiedet, verlässt ein Institut, das - noch so eine Insel - einzigartig ist im deutschsprachigen Raum.

Architektur: "Architektur kann viel mehr, als ihr gemeinhin zugetraut wird. Das gilt gerade im Gesundheitswesen", sagt Christine Nickl-Weller von Nickl&Partner.

"Architektur kann viel mehr, als ihr gemeinhin zugetraut wird. Das gilt gerade im Gesundheitswesen", sagt Christine Nickl-Weller von Nickl&Partner.

Bilanzierend könnte sie ihre einmalige Karriere jetzt mit sehr viel Architektur umschreiben, mit Überlegungen zur Raumqualität, mit Licht und Akustik, mit Funktionalität und Materialgerechtigkeit. Sie aber spricht auch von der Frage, wann man geweckt werden sollte im Krankenhaus. Denn "Healing Architecture" als Lehre vom Einfluss der Architektur auf die Gesundheit fange nicht unbedingt bei der Architektur an. Beziehungsweise: "Das Thema hört auch nicht auf bei der Architektur."

Wie jetzt? Die Architektur fängt nicht an bei der Architektur und hört auch nicht auf bei der Architektur? Das ist ja mal ein Satz, wie er im Reich der Baukunst leider nur selten zu hören ist. Wer lange mit Architektinnen und Architekten zu tun hat, der weiß, dass die meisten erfolgreichen Repräsentanten dieser ehrwürdigen Kunst finden, dass eigentlich die ganze Welt anfängt und endet mit der, besser noch: ihrer Architektur. Ein Ahnherr der Architektenschaft, der französische Klassizist Claude-Nicolas Ledoux, begriff Architekten als "Rivalen des Schöpfers" und "Titanen der Erde".

Und jetzt sitzt man also vor der zierlichen, stets elegant gekleideten Titanin, die die heilende Baukunst für Deutschland geradezu erfunden hat, man sitzt vor der Mrs.-Healing-Architecture-Germany, und sie sagt: "Einerseits kann Architektur viel mehr, als ihr gemeinhin zugetraut wird, das gilt gerade im Gesundheitswesen. Andererseits darf man ,Healing Architecture' nicht isoliert betrachten, losgelöst von ganz anderen als räumlichen Fragen. Manchem Patienten wäre beispielsweise schon geholfen, würde man ihn endlich ausschlafen lassen. Das hat aber zunächst nichts mit Architektur zu tun, sondern schlicht mit Arbeitsorganisation."

Man kann sich Christine Nickl-Weller vorstellen als jemand, der Inseln entwirft

Und damit wäre man jetzt schon wieder auf einer Insel gelandet, auf der legendären Insel aus der "Werner - Beinhart"-Comicverfilmung. Der Held in diesem Stück Comicgeschichte, Werner, liegt schwer verletzt im Krankenhaus und träumt von einer Südseeschönheit auf einer einsamen Insel. Es ist früh am Morgen, also mitten in der Nacht. Da, zack!, "Moooogäään", wird die Tür aufgerissen: "Schön waschiwaschi machen". Dann verlässt die "olle Zippe" Werner, lässt aber das Licht an, weshalb Werner wieder aufstehen muss ... Um es kurz zu machen: In dieser Kammer des Schreckens, einem kranken Zimmer ähnlicher als einem Krankenhauszimmer, das zu hell und zu laut und zu unfreundlich und zu kantig ist, kann Werner nicht gesunden. Am Ende türmt er glücklich Richtung Südsee.

Man kann sich Christine Nickl-Weller, die 1951 in Bad Reichenhall geboren wurde und an der Technischen Universität München studiert hat, vorstellen als jemand, der Inseln entwirft: Räume der Zuflucht, Räume, um wieder zu sich zu kommen und gesund zu werden. Kranke und verletzte Menschen sind nämlich auch räumlich verletzlich. Aus vielen Studien weiß man, dass beispielsweise der übliche Krankenhauslärm - blubbernde Beatmungsgeräte, piepende Monitore, zufallende Türen, laute Gespräche - der Gesundung sehr im Weg steht. Umgekehrt ist es auch so, dass Patienten, die eine besonders ruhige Umgebung vorfinden, nach einem Eingriff weniger Medikamente benötigen und schneller gesund werden.

Ähnliches gilt auch für die Frage, was die Patienten sehen. 1984 wurde im Wissenschaftsmagazin Science eine Studie veröffentlicht, in der zwei Gruppen von Patienten mit gleichen Operationen miteinander verglichen wurden. Die eine Gruppe konnte durch das Zimmerfenster auf einen Park mit Bäumen schauen, die andere Gruppe musste die Betonmauer des Nachbargebäudes in den Blick nehmen. Ergebnis: Patienten, die auf den Park sehen konnten, benötigten deutlich weniger Schmerzmittel, litten seltener an Depressionen und konnten im Schnitt einen Tag früher nach Hause entlassen werden als die Patienten der Betonwand-Gruppe. Besser kann man das Healing-Architecture-Phänomen kaum umschreiben. Immer mehr Studien liegen dazu mittlerweile vor. Die architektonisch-räumliche Qualität ist demnach ein bedeutsamer Faktor im Gesundheitswesen.

In der Architektur wird gern ein Zitat herumgereicht: "Erst bauen Menschen Häuser, dann bauen Häuser Menschen." Doch diese Sentenz über die Wechselwirkung von Raum, Psyche und Physis ist exakt das, was Christine Nickl-Weller durch ihre Forschung seit Jahren mit echter Bedeutung anreichert. Sie weist diese Zusammenhänge nach. Auch deshalb ist sie allergisch gegen alles, was beim Bauen eher in Richtung Esoterik und Feng-Shui als in Richtung Healing Architecture geht.

Da kommt ihr eine gewisse Bodenständigkeit und Bad-Reichenhall-Haftigkeit zugute. In einer an weiblichen Karrieren so armen Disziplin wie der Architektur konnte sie vielleicht deshalb so erfolgreich werden, weil sie das eigentlich gar nicht wollte. "Ich wollte nie Krankenhäuser entwerfen und ich wollte auch nie Vorlesungen halten. Und ein großes Büro führen wollte ich auch nie."

Hat ja prima geklappt.

Hans Nickl kommt spätestens hier ins Spiel. Das ist ihr Mann - und einer der Architekten, die die Krankenhausarchitektur neu erfunden haben. Nicht nur vom Raum und der Funktion, sondern vom Menschen ausgehend. Es ist eine humanistische Idee, die hinter dieser Art der Formfindung steckt. Befördert durch ihren Mann Hans, wuchs Christine Nickl-Weller allmählich in das Thema hinein und stellte fest: Es ist ja dann doch ihre ganz eigene Bestimmung. Noch immer teilt sich das Architektenpaar, dem die Welt einige der besten und auch schönsten Gesundheitsbauten verdankt, einen gemeinsamen Schreibtisch. Wie eine Ehe das überstehen kann, will man zum Abschluss wissen. Sie sagt: "Er weiß, dass er niemals fragen darf, was ich da gerade mache, wenn ich in den Computer schaue." Und er sagt "na ja", lächelt sie dann aber so an, dass man auf die Idee kommt: Vielleicht stecken nicht nur hinter erfolgreichen Männern oft starke Frauen, sondern auch hinter erfolgreichen Frauen manchmal souveräne Männer.

Das Architekturbüro hat Dependancen in Berlin, Zürich, Peking und Jakarta. Ihre meterlange Projektliste weist zuletzt etwa das universitäre Herzzentrum in Hamburg oder den Umbau des Kaiser-Franz-Josef-Spitals in Wien auf, neue Krankenhäuser in China, der Schweiz und Frankreich entstehen derzeit nach ihren Plänen. Die Nickls haben die heilsame Architektur in aller Welt miterfunden und vorangetrieben, dafür muss geredet, konferiert und viel diskutiert werden. "Wenn mir aber das Reden zu viel wird", sagt Christine Nickl-Weller, "dann gehe ich am liebsten ins Gemüsebeet in den Garten. Tomaten reden nicht." Vielleicht ist das Gemüsebeet ihre eigene kleine Insel.

In München ist in der Architekturgalerie noch bis zum 12. Januar die Ausstellung "Healing Architecture 2004 - 2017" zu sehen, die die Lehre und Forschung von Professor Christine Nickl-Weller bilanziert.

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