Arschgeweih-Protokolle:"Von hinten bin ich Hirsch"

Tribals auf dem Steißbein waren sexy - bis sich die halbe Nation darüber lustig machte. Was hat junge Frauen in den Neunzigerjahren zum Arschgeweih bewegt? Und wie trägt man das heute?

Von Felicitas Kock

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Erinnern Sie sich an die Neunziger? Die Leute hörten Eurodance, trugen Plateauschuhe, weite Hosen, bauchfreie Shirts - und überall tauchten Bauchnabelpiercings und Steißbeintattoos auf, weil man ja irgendwas anfangen musste mit der vielen nackten Haut zwischen Hosenbund und Oberteil.

Mehr als 15 Jahre liegt das nun zurück. Die weiten Hosen wurden gegen enge getauscht, die bauchfreien Shirts aussortiert, die Plateauschuhe für die nächste Bad-Taste-Party eingemottet und das Glitzerpiercing liegt als Andenken an wildere Zeiten in der Schmuckschatulle. Geblieben sind die Tattoos. Bei Susanne, Bettina, Christin, Susi, Steffi und Patricia - und allen anderen, die damals dachten, so ein Steißbeintribal sei die geeignete Körperverzierung für die Ewigkeit.

Susanne, 35, arbeitet als Gymnasiallehrerin in Seeshaupt

"Ich habe mir mein Tattoo Ende der Neunziger stechen lassen, mit 20. Schuld war mein damaliger Freund, ein Amerikaner, den ich in Deutschland kennengelernt hatte. Wir hatten etwa vier Monate eine Fernbeziehung, dann bin ich zu ihm in die USA geflogen. Er war etwas älter, unglaublich cool und am ganzen Körper tätowiert. Das war natürlich sehr inspirierend.

Meiner Mutter war das Ganze relativ egal, meinem Vater habe ich mein 'Arschgeweih' lange verheimlicht. Als er es dann doch gesehen hat, meinte er nur: 'Jeder darf sich selbst verschandeln wie er will.'

Damals fand ich mein Tattoo noch super, während des Studiums ist das irgendwann umgeschlagen. Jetzt nehme ich es überhaupt nicht mehr wahr. Ich erschrecke fast, wenn man es doch mal sieht und meine Schüler plötzlich schreien: 'Sie sind ja tätowiert! Voll cool!'

Wegmachen will ich es nicht, das ist mir zu schmerzhaft und zu aufwendig. Im Gegenteil, mein Mann und ich überlegen seit unser kleiner Sohn auf der Welt ist, ob wir uns beide noch ein Tattoo stechen lassen sollen. Als Andenken ans Kind. Aber da ist die Motivwahl schon sehr schwierig. Mein Mann ist übrigens nicht der tätowierte Amerikaner von damals. Die Geschichte war nach meinem dreiwöchigen Aufenthalt in den USA vorbei. Gut, dass mich das Tattoo nicht übermäßig an ihn erinnert. Es ist jetzt einfach meins."

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"Frauen mit Arschgeweih waren die Sexsymbole der damaligen Zeit", sagt Daniel Krause, der es wissen muss, schließlich gilt er als Deutschlands bekanntester Tätowierer. Das geschwungene Tribal am unteren Rücken betone die weibliche Silhouette und sei damit - ganz objektiv - eine höchst erotische Angelegenheit.

Bettina, 32, arbeitet als Lehrerin in München

"Heute ist es so weit: Ich werde mir mein Arschgeweih umstechen lassen. Zweimal habe ich schon einen Termin ausgemacht, der nicht geklappt hat - dieses Mal komme ich nicht mehr aus der Nummer raus. Ich könnte es mir auch wegmachen lassen, aber dazu habe ich ehrlich gesagt keinen Nerv. Erstens habe ich gehört, dass das höllisch wehtun muss, außerdem besteht die Gefahr, dass Narben bleiben.

Ich stehe lieber dazu, dass ich mir mal so ein Tribal habe stechen lassen und mache jetzt etwas Schönes daraus. Etwas mit Bedeutung. Denn was für eine Aussage hat schon ein Arschgeweih? Als ich 18 war, fand ich Tribals cool, habe das Geld von Freunden zum Geburtstag bekommen, das war's. Und für damals hat das auch vollkommen gereicht. Aber wenn ich jetzt etwas auf meinem Körper mit mir herumtrage, will ich damit schon etwas verbinden.

Auf das neue Motiv trifft das zu: Weil ich gerne und viel wandere, lasse ich mir ein Gebirge, Enzian und Edelweiß stechen. Besser gesagt einen ganz konkreten Berg - den Alpamayo in Peru, da war ich 2007 ein paar Wochen unterwegs. Eine tolle Zeit.

Bis vor ein paar Tagen war ich überhaupt nicht aufgeregt. Dann habe ich ein paar Freunden die Skizze für das neue Tattoo gezeigt und die haben begonnen, Fragen zu stellen. Bist du dir sicher, dass du das willst? Ist das nicht ganz schön bunt? Willst du die Blumen nicht lieber etwas kleiner machen? Jetzt bin ich echt nervös. Aber ich ziehe das durch. Ganz allein. Das muss jetzt einfach sein."

Nach ein paar Wochen: "Über das Ergebnis bin ich total begeistert. Genau so habe ich mir mein Tattoo gewünscht. Auch das Feedback von anderen ist richtig gut. Mein Fazit: Das Umstechen war eine spannende Erfahrung - mit perfektem Ergebnis."

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Überhaupt hätten wir dem Arschgeweih viel zu verdanken, sagt Krause. Es habe Tattoos aus der Schmuddelecke geholt und zum Massenphänomen gemacht. Vorher sei Farbe unter der Haut als "Kriegsbemalung" für Ex-Knackis und Türsteher, Matrosen und Lkw-Fahrer reserviert gewesen, plötzlich liefen junge Mädchen damit ganz unbedarft durch Freibäder und Fußgängerzonen.

Steffi, 34, arbeitet als Projektmanagerin in der Werbebranche bei München

"Ich glaube, wenn mein Kind später fragt, ob es ein Tattoo haben darf, muss ich ihm eine Riesenwatschn geben. Ich selbst war ja so unglaublich doof damals. Mit 17 oder 18 wurde ich von meinem Freund verlassen. Das war ein Drama. Ich hatte so schlimm Liebeskummer, dass ich unbedingt irgendwas verändern wollte. Andere Frauen gehen zum Friseur, ich bin zum Tätowierer.

Ich wollte nur ein ganz kleines Tribal, vielleicht drei mal vier Zentimeter. Der Typ im Tattoostudio meinte aber, das sähe blöd aus und, na ja, ich habe mich überreden lassen. Ich habe alles mitgemacht damals, hatte eine Menge Piercings, natürlich auch im Bauchnabel. Anfangs fand ich mein Tattoo echt gut, so was hatte damals niemand. Bis plötzlich die merkwürdigsten Leute mit Tribals auf dem Steißbein durch die Gegend gelaufen sind. Und dann kam Stefan Raab und auf einmal hatte ich ein "Arschgeweih". Das war hart.

Irgendwann, das muss 2008 gewesen sein, habe ich beschlossen, es entfernen zu lassen. Zehn Sitzungen sollte das dauern, jede für 120 Euro. Ich bin zweimal hin, dann habe ich die Segel gestrichen. Das tut so höllenmäßig weh! Viel mehr als das Stechen. Ich habe außerdem meinen Job gewechselt, bin ins Ausland, hatte nicht mehr so viel Geld. Das Tribal sieht seitdem aus wie von Motten zerfressen. Das ist nicht schön, ist mir im Moment aber relativ egal - ich sehe es ja zum Glück nicht. Mein Partner kann es auch ganz gut ignorieren. Aber irgendwann werde ich es wohl ganz wegmachen müssen. Oje."

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Das Steißbeintribal hat also eine ganze Menge damit zu tun, dass heute mehr als zehn Millionen Menschen in Deutschland tätowiert sind. Und dass seit einigen Jahren ein regelrechter "Hype" entstanden ist, wie Krause es ausdrückt.

Susi, 51, arbeitet in Münchens ältestem Tattoostudio

"Wenn es um Tattoos geht, sitze ich quasi an der Quelle. Ich habe mittlerweile beide Arme voll: Der linke ist japanisch, bunte Koi-Karpfen und Kirschblüten auf schwarzen Wirbeln. Der rechte Arm ist schwarz-weiß, vor allem Rosen und oben ein Pudel, weil ich Pudel gerne mag. Auch meine Wade ist tätowiert.

Angefangen hat alles 1993 mit einer Blume. Es gab da diesen Bodybuilder, Barry Demay, der hatte eine tolle Rose auf dem linken Oberarm. So eine wollte ich auch, deshalb bin ich ins Münchner Rainbow Tattoo Studio. Da hab ich dann nicht nur die Rose bekommen, sondern den Tätowierer gleich dazu. Auf den ersten Blick hat es mich voll erwischt. Der Peter, mein Mann, hat seitdem alle meine Tattoos gemacht, deshalb sind die auch so gut.

Mein Arschgeweih war mein drittes Tattoo, ich habe es mir 1998 stechen lassen. Der Peter hat zu der Zeit eine Menge Tribals gezeichnet. Welche für schmalere Hintern, welche für breite - jede Figur ist ja anders. Eines hat mir besonders gut gefallen, das hat er mir dann gestochen. Es ist eher schnörkellos und betont, wie jedes gute Steißbeintattoo, die weibliche Anatomie. Das ist ja das Schöne daran und deshalb gefällt es mir heute noch - obwohl ich es ehrlich gesagt nicht sehr oft sehe.

Als irgendein Komiker in den Nullerjahren begonnen hat, das Ganze als "Arschgeweih" durch den Dreck zu ziehen, haben sich viele Frauen verunsichern lassen. Das finde ich schade. Ich bin da selbstbewusst. Von hinten bin ich eben ein Hirsch, na und? Mittlerweile trage ich obendrüber noch einen Löwen. Tiere und Pflanzen - das ist zeitlos, das gefällt mir. Und wer weiß, vielleicht kommt das Arschgeweih irgendwann sogar wieder in Mode."

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Aktuell geht die Entwicklung in zwei Richtungen: Da sind die kleinen, unauffälligen Tattoos, die sich junge Leute quasi im Vorbeigehen stechen lassen. Sternchen im Nacken, Unendlichkeits-Schleifen auf der Schulter, Schriftzüge am Oberarm oder seitlich am Brustkorb. Ein paar Striche, das war's - Tattoos wie Kugelschreiber-Gekritzel auf dem Block neben dem Telefon.

Christin, 33, arbeitet als Journalistin in Köln

"Mit Anfang 20 habe ich mir eine Rose auf den unteren Rücken stechen lassen. Mit einem Arschgeweih hat das für mich nichts zu tun. Die Rose ist ja eher klein, ich trage sie nicht plakativ durch die Gegend und sie blitzt nur ganz selten über dem Hosenbund hervor.

Ich habe mir das Tattoo damals machen lassen, weil ich es konnte. Ich brauchte keine Erlaubnis und gekostet hat es auch fast nichts. Nur 25 Euro - oder waren es Mark? Dafür hat es ungeheuer wehgetan. Bereut habe ich meinen Wagemut nie: Die Rose ziert meinen Körper, sie ist ein Schmuck, für den ich nichts umzuhängen brauche.

Ich glaube, es ist gut, dass ich das damals für mich gemacht habe; weil ich selbst es gut fand. Alle anderen Motivationen sind ja vergänglich. Irgendwann ist die Rebellion gegen die Eltern vorbei, irgendwann findest du den Typen nicht mehr toll, den du beeindrucken wolltest. Und dann erinnert dich das Tattoo trotzdem noch daran. Bei mir ist das anders. Gott sei Dank.

Andere Leute reagieren heute eher überrascht, weil ich nicht der Typ Frau bin, bei dem man ein Tattoo vermuten würde. Auch meinen Eltern habe ich lange nichts verraten, bis wir irgendwann zusammen in den Strandurlaub gefahren sind. Als mein Vater die Rose gesehen hat, hat er nur gewitzelt: 'Dann pass mal auf, dass die nicht verwelkt.' Ich glaube, Eltern müssen so etwas sagen."

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Quelle: Patricia Breu

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Auf der anderen Seite gibt es einen Trend zu großflächigen Kunstwerken, die sich über ganze Körperteile ziehen, bei Frauen bevorzugt über den Oberschenkel. Besonders beliebt sind bunte Blumen und Blätterranken, die im Sommer unter extrakurzen Hotpants hervorragen. Eine Kombination, die Krause zufolge nur ganz knapp am Arschgeweih vorbeischrammt, gefühlsmäßig betrachtet.

Und was ist mit dem echten, dem einzig wahren Arschgeweih aus den Neunzigern? Auch das wird irgendwann sein Revival erleben, glaubt Krause. "Wer weiß, vielleicht kommt es schon bald zurück."

Patricia, 30, ist Volontärin in München

"Ich war 15, als ich mir ein Tattoo auf den unteren Rücken stechen ließ. Meine Mutter war einverstanden, sie hat den Großteil der 400 Mark gezahlt, die es gekostet hat. Als ich mich im Tattoostudio über die Bücher mit den Motiven gebeugt habe, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Tribal gesehen. Niemand, den ich kannte, hatte damals ein Tribal, geschweige denn ein Arschgeweih.

Ich fand mein Tattoo dann sehr cool, alle anderen auch. So was traute sich einfach nicht jeder - und hey, es sah richtig gut aus. Das änderte sich erst, als ich 19 oder 20 war. Plötzlich war das Tribal das einfallsloseste Tattoo von allen.

Vor einem Jahr habe ich es umstechen lassen. Nicht komplett, weil das Tribal immer noch zu mir gehört, aber teilweise. Anlass war ein Artikel für ein Magazin, für das ich manchmal schreibe. Ich bin dafür zu einem Tätowierer gegangen, der einen eher künstlerischen Ansatz vertritt. Er hat kein klassisches Tattoostudio. Man kontaktiert ihn über Facebook, bespricht, was man sich ungefähr vorstellt und macht einen Termin mit ihm. Er legt dann einfach los, ohne Skizze. Das ist aufregend, aber er ist Profi, ich habe ihm vollkommen vertraut. Die Prozedur sollte etwa zwei Stunden dauern. In den ersten Sekunden war ich erstaunt, weil ich den Schmerz schlimmer in Erinnerung hatte. Dann kam er, mit Wucht - und irgendwann musste ich den Tätowierer tatsächlich bitten, aufzuhören. Aber da war er schon fast fertig.

Trotz der Schmerzen könnte ich mir vorstellen, mir noch weitere Tattoos machen zu lassen. Obwohl mein Freund das ausgesprochen fahrlässig findet. Klar, so ein Tattoo ist eine Entscheidung fürs Leben - aber andererseits lebt man nur einmal. Wenn mir etwas gefällt, warum soll ich es dann nicht einfach machen?"

© Süddeutsche.de/jana
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