Architektur:Zur Sonne, zur Freiheit

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Die Dachterrasse gibt den Bewohnern ein himmlisches Gefühl - wenn sie sich den Spaß leisten können. Ein neuer Prachtband versammelt die schönsten Beispiele.

Von Gerhard Matzig

Nicht alles, was der Sozialismus hervorgebracht hat, ist auch in ästhetischer Hinsicht eine Bereicherung. Zum Beispiel das Willy-Brandt-Haus in Berlin oder die Schäfer-Gümbel-Brille. Eine fraglos großartige Bereicherung ist dagegen die Dachterrasse. Die tatsächlich eine sozialistische Idee ist, obwohl sie ursprünglich vom Klassenfeind stammt.

Seit der Antike, seit den hängenden Gärten der Semiramis und seit den Terrassenhäusern in Mesopotamien, waren begehbare Dächer - im europäischen Kontext - wegen ihrer aufwendigen Konstruktion zumeist dem Schloss- und Palastbau vorbehalten. Erst mit der Moderne und dem technisch auf kostengünstige Weise "regendicht" machbaren Flachdach wurde die auf dem Haus begehbare Terrasse umcodiert: aus herrschaftlicher Architektur wurde ein sozialistisches Versprechen.

Als Le Corbusier in den Zwanzigerjahren seine Doppelhaushälfte in der Stuttgarter Werkbundsiedlung (Weißenhofsiedlung, inzwischen Weltkulturerbe) vorstellte, deutete er die Dachterrasse nicht allein im Sinne der kubischen, die Horizontale betonenden Ästhetik der Moderne, sondern ganz bewusst auch im Sinne einer sozialistischen Reformidee vom befreiten und humanen Wohnen. Die Dachterrasse sollte kein Privileg, sondern ein Sozialraum sein und der Allgemeinheit beziehungsweise der Hausgemeinschaft dienen. Sonne für alle. Party für alle. Schluss mit dem Gerümpel auf dem stickig-dunklen Dachboden.

Die funktionale Paradoxie der Dachterrasse, Herrschaftsarchitektur und Reformbewegung in einem, ist auch eine der Begrifflichkeiten. Das Widersprüchliche ist bereits im Wort angelegt. Die Terrasse, eine überdachte oder unter freiem Himmel befindliche Fläche am und vor dem Haus, kommt nämlich vom lateinischen "terra", bedeutet also zunächst Erde oder Erdboden. Daher ist die Terrasse im Normalfall eine Gartenterrasse. Etwas Bodenständiges. Die Dachterrasse dagegen strebt auch selbst dorthin, wo sie ihrem Namen gerecht wird, aufs Dach, himmelwärts, nach oben.

Sie befindet sich dort, wo normalerweise nur Dach ist. Das Horizontale triumphiert über die Schräge, das Dach wird begehbar. Insofern ist die Dachterrasse eine Sensation, vor allem in München. Dort allerdings stellt sich die "großzügige, lichtdurchflutete Dachterrassenwohnung im Zentrum" alsbald als Zweizimmerwohnung in Moosach heraus, die im zweiten Stock liegt, ziemlich dunkel ist und daher auch keine Dachterrasse, sondern einen kleinen Betonbalkon nach Nordost aufweist. Trotzdem kostet das "Schmankerl" je Quadratmeter 26 Euro. Kalt. München halt, könnte man meinen.

Es gilt, die "fünfte Fassade" zu entdecken, als Lebensraum für möglichst viele Menschen

Aber tatsächlich verführt die Behauptung einer Dachterrasse auch anderswo zu mancher Maklerpoesie. Insofern kann man befürchten, dass die sozialistisch-schöne Idee noch nicht ganz angekommen ist im Wohnvolk. Dachterrasse: Das hört sich einfach immer noch nach Semiramis an. Oder wenigstens nach einer Location, an der man sich den Dreh zum Raffaello-Spot vorstellen kann, weshalb Moosach plötzlich mondän ist - mit Dachterrasse.

Auch Philip Jodidio nimmt in seinem soeben erschienenen, wunderbar suggestiv illustrierten Prachtband über die "himmelhohen Paradiese" (Rooftops - Islands in the Sky, 384 Seiten, 49,99 Euro, Verlag Taschen) zunächst die Hideaways der Städte in den Blick. Versteckte Oasen, dem Alltag entrückt: Pools, Bars, exklusive Restaurants ... Aber das Buch verhandelt auch ganz grundsätzlich die baupolitische Notwendigkeit, endlich die "fünfte Fassade", die früher kaum berücksichtigt wurde als Lebensraum, zu entdecken. Oder: wiederzuentdecken. Nutzbare Dachflächen entwickeln sich dem Buch zufolge "zu einem eigenen städtischen Lebensraum, der sowohl neue Wohnflächen schaffen als auch eine Oase für die Flucht vor der Großstadthektik bieten kann".

So wurde eine internationale Auswahl städtischer Dachterrassen zusammengetragen. Mehr als 50 Bars, Restaurants, Gärten und temporäre Kunstinstallationen illustrieren die Vielfalt intelligenter und ausgefallener Ideen, die Dächer von Sydney bis Oslo interpretieren. "Ob es die Panoramaaussichten sind, die Nähe zu den Elementen oder der leichte Anflug von Schwindel, der uns in Höhen ergreift: Wir sehen hier, wie die Dachterrasse nicht nur die Fantasie der Architekten beflügelt, sondern das Leben in der Stadt um eine ganz neue, aufregende Facette bereichert."

Das muss sich allerdings auch ein gewisser Dr. H. vor einiger Zeit gedacht haben. Auf seiner 150 Quadratmeter großen Dachterrasse organisierte der Steuerberater regelmäßig Callgirl-Partys, um in geselliger Runde über den Dächern von Wien Kokain zu verticken. Ein Polizeieinsatz (mit Hubschrauber, Scharfschützen und sich abseilenden Beamten) beendete diese Form des himmelhohen Paradieses.

Gottgefälliger dürfte die Tatsache sein, dass sich viele Hochhausprojekte in Europa mittlerweile eine amerikanische Tugend zu eigen machen: Dort ist das Dach oft der Allgemeinheit vorbehalten - in Form von Aussichtsplattformen, Bars oder Restaurants. Es ist ja schön, wenn das horizontale Reich über der Vertikalen auch als Lebensraum entdeckt und nicht allein den Mauerseglern überlassen wird. Noch schöner aber ist es, wenn die neuen Paradiese in den Städten nicht nur einigen, sondern möglichst vielen Menschen offenstehen. Notfalls auch ohne Aussicht auf Callgirls, dafür mit Blick aufs Leben.

© SZ vom 07.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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