Architektur:Stein der Weisen

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Das älteste vorgefertigte Bauelement der Welt erlebt derzeit eine wundersame Renaissance: der Backstein. Geklinkert wird rund um die Welt, es entstehen Museen, Privathäuser und sogar Whiskybrennereien.

Von Gerhard Matzig

Sogar zur subversiven Revolte am Bau eignet er sich. Wahlweise dient er aber auch der nationalen Imagepflege. Er ist wirklich extrem viel- und nicht nur sechsseitig, der Backstein. Als in Hamburg 1980 zwischen Poststraße und Große Bleichen ein fast 10 000 Quadratmeter umfassendes Shopping-Areal nach mehrjähriger Bauzeit feierlich eröffnet wurde, verloren die Hanseaten vor Schreck fast ihre Contenance, die sie normalerweise so adrett zum blauen Sakko tragen. Denn über den goldschimmernden Buchstaben "Hanseviertel" hatten die spaßbereiten Bauarbeiter aus Krakau mit Hilfe etwas dunkler getönter Ziegel gut lesbar und zweimal so groß das Wort "Polen" im roten Mauerwerk arrangiert. So wurde aus dem backsteinernen Hanseviertel nicht nur eine Hommage auf das älteste (vorgefertigte, also künstlich hergestellte) Bauelement der Welt, sondern auch eine Demonstration polnischer Maurer-Fertigkeiten.

Backstein ist ein anderes Wort für Ziegelstein, allerdings sind beide umgangssprachlich üblichen Begriffe nicht ganz korrekt. Denn Steine werden nicht gebrannt, Ziegel aber schon. Und so lautet der Fachbegriff "Mauerziegel". Kurz: Ziegel. Der besteht dem Bau-Lexikon zufolge "aus Lehm und Tonerde" und wird "durch Wasserzugabe plastifiziert, geformt, luftgetrocknet und/oder gebrannt". Einfache Backsteine werden bei rund 900 Grad in Ziegeleien gebrannt ("gebacken"), während "Klinker", die frost- und wetterbeständiger sind, bei 1200 Grad ihre dann auch teureren Qualitäten erhalten.

Filippo Brunelleschis berühmte Dom-Kuppel in Florenz, eine gebaute Parabel auf den Erfindergeist der Florentiner und der vielleicht wichtigste Gründungsmythos der italienischen Renaissance, wäre ohne Ziegel nicht denkbar. Noch heute überstrahlt das weithin sichtbare rote Kuppeldach die toskanische Terrakotta-Landschaft. Auch das ist nur ein anderes Wort für Ziegel: terra cotta - "gebrannte Erde". Die Kuppel ist eines der zeichenhaftesten Baudenkmale der Neuzeit. Aus Ziegel sind aber auch die Marienkirche zu Lübeck, das atemberaubend dynamisch geformte Chilehaus in Hamburg, halb, nein, mindestens dreiviertel Gelsenkirchen und sogar die gigantische Battersea Power Station in London.

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(Foto: N/A)

Die einzige Whiskybrennerei Italiens im Val Venosta von Werner Tscholl. Alle Fotos aus dem Buch "100 Zeitgenössische Bauten aus Backstein" von Philip Jodidio, erschienen im Taschen Verlag, Köln.

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(Foto: N/A)

Bürogebäude in Hamadan, Iran, einer der ältesten Städte der Welt, erbaut von Farshad Mehdizadeh und Ahmad Bathaei.

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(Foto: N/A)

Termitenhaus in Da Nang City, Vietnam, Büro Tropical Space.

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(Foto: Roland Halbe)

Tate-Modern-Anbau in London von Herzog & de Meuron.

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(Foto: Addison Godel)

Sommerhaus von Alvar Aalto im finnischen Muuratsalo.

Eine kleine Kirche von Monadnock in Nieuw-Bergen in den Niederlanden.

Das ehemalige Kohlekraftwerk ist eines der größten Ziegelgebäude Europas. Es steht am Südufer der Themse, und man kennt den Bau auch deshalb so gut, weil Pink Floyd einst auf surreal-herrliche Weise ein riesiges Schwein zwischen den titanischen Schloten schweben ließen. Übrigens ist ja auch deren popkulturelle No-Education-Hymne "Another Brick in the Wall" nicht denkbar ohne Lehm. Der Ziegelstein, der auf Englisch "brick" heißt, ist also so etwas wie der Stein der Weisen: ein allgegenwärtiges, sprachbildmächtiges, dabei aber am Bau auch sehr reales und funktionales Faszinosum.

Neben Holz, unbearbeiteten Bruchsteinen und Pflanzenfasern gehörten Lehmziegel schon zu den Baustoffen früher Hochkulturen. Die bislang ältesten Ziegel wurden bei archäologischen Grabungen in Jericho gefunden. Sie sind fast zehntausend Jahre alt. Ganz so alt ist der Produktionsstandort einer, sagen wir, größeren süddeutschen Zeitung nicht - aber das Stadtviertel Berg am Laim, das von der SZ aus gut zu sehen ist, beinhaltet ebenfalls einen Hinweis auf das altehrwürdige Baumaterial. Denn der Namenszusatz "am Laim" geht auf den "Laimb", also auf den Lehm zurück und markiert geologisch eine etwa ein Kilometer breite Löß-Lehm-Zunge der Münchner Schotterebene. Ziegel aus Berg am Laim wurden für große Teile der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Münchner Innenstadt und auch für die Frauenkirche verwendet. Backsteine sind so alt und so global - wie sie auch modern sind.

Ludwig Mies van der Rohe, der Großmeister der Moderne, eigentlich ein Fachmann für Stahl und Glas, sagte einmal: "Architektur beginnt, wenn zwei Backsteine sorgfältig zusammengesetzt werden." Diese berühmt gewordene Sentenz steht auch am Beginn des soeben zweibändig herausgekommenen und gut sechshundert Seiten umfassenden Mammutwerkes über "100 zeitgenössische Bauten aus Backstein" (Verlag Taschen, 49,99 Euro). Ausgewählt vom Kunsthistoriker Philip Jodidio werden hier Ziegel-Architekturen der letzten fünfzehn Jahre aus aller Welt präsentiert.

„100 Zeitgenössische Bauten aus Backstein“ von Philip Jodidio, erschienen im Taschen Verlag, Köln (Foto: N/A)

Versammelt werden staunenswert geziegelte Privathäuser, Kulturbauten oder auch Industrie-Bauwerke und Stadien nach Plänen von Architekten wie Tadao Ando oder Peter Zumthor. Auch die Kulturgeschichte des Materials ist präsent. Erinnert wird etwa an diesen Satz von Frank Lloyd Wright, mit dem der amerikanische Architekt einst einen Vortrag in Milwaukee eröffnete: "Meine Damen und Herren, wissen Sie, was ein Backstein ist? Er ist unbedeutend und kostet elf Cent; er ist alltäglich und wertlos, aber er besitzt eine besondere Eigenschaft. Geben Sie mir diesen Backstein, und er wird sein Gewicht in Gold wert sein." Diese Alchemie der Baukunst, die Transformation eines einfachen in ein edles Material, betreiben nun immer mehr Architekten.

In München ist es beispielsweise der Architekt Andreas Hild vom angesehenen Büro Hild und K Architekten, der schon lange mit Ziegel arbeitet. Das "Haus in Aggstall" besteht aus Ziegelwänden, die den ornamentalen Reichtum des Materials besonders gut zur Geltung bringen. Hild sagt: "Wir bauen gern mit Ziegel. Es ist ein Material, dem eine gewisse Archaik innewohnt, etwas Essenzielles, aber zugleich erlaubt Ziegel auch Ornamente und Formen sowie Farben, die aufgrund der strengen Maß-Systematik immer geordnet und logisch erscheinen. Außerdem: Man kann mit Ziegel praktisch nichts machen, was nicht schon jemand anderes gemacht hat, das erzeugt eine gewisse Demut."

Auch im Basler Büro von Jacques Herzog und Pierre de Meuron stolpert man über kleine Backstein-Berge. Sowohl das "Museum des 20. Jahrhunderts" in Berlin als auch das neue Chelsea-Stadion in London werden bald suggestiv geformte Ziegel-Fassaden erhalten. Es ist das Material der Stunde. Seine Wiederentdeckung lässt hoffen, denn es ist ein sinnliches und dienendes Material, ein alltäglicher, kleinmaßstäblicher und doch große Emotionen bergender, zudem umweltfreundlicher und langlebiger Baustoff. Und er erinnert, herrlich, an Bauklötze. Die dem Alltag zuletzt so entfremdete Architektur könnte wieder "geerdet" werden. Mit Erde, Feuer und dem schönsten Ziegelrot der Welt.

© SZ vom 05.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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