Dem Geheimnis auf der Spur:Monstermörder

Das mittelalterliche Epos "Beowulf" schildert die Taten eines Helden mit übernatürlichen Kräften im Kampf gegen Ungeheuer. Das Gedicht ist bis heute so mysteriös wie die Welt, von der es erzählt.

Von Nicolas Freund

In der British Library in London steht ein Turm aus Glas. Die King's Library genannte Sammlung dort enthält einige der ältesten Bücher der Bibliothek, darunter eine Gutenberg-Bibel und mehrere Erstausgaben der Werke Shakespeares. Der Großteil dieser Bibliothek wurde im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung gesammelt. Besessen von dem Gedanken, die Welt in eine Enzyklopädie bannen zu können, und möge sie noch so viele Bände umfassen, wurden im Auftrag König Georgs III. jahrzehntelang aus ganz Europa Bücher zusammengetragen.

Nur wenige Werke in der British Library sind älter und wertvoller als diese eindrucksvolle Sammlung. Eines davon ist der Nowell Codex, ein aus mehreren einzelnen Handschriften zusammengestellter Band aus dem 12. Jahrhundert. Wie die eindrucksvolle King's Library ist der Nowell Codex eine Sammlung. Allerdings keine, die es sich zum Ziel gesetzt hat, das Wissen der Welt abzubilden. Die Texte in dem Codex handeln alle, manche konkret, manche abstrakt, von Monstern.

Illustration from a collection of myths, 1915

Der geheimnisvolle Krieger Beowulf muss gegen Drachen und andere Ungeheuer kämpfen.

(Foto: Helen Stratton)

Unschätzbar ist der Wert des Textes für die englische und altenglische Sprache

Der längste und bekannteste Text in dem Buch ist ein mehr als 3000 Verse langes Gedicht, das auf Altenglisch von den Taten eines Helden mit dem Namen Beowulf berichtet. Es wird erzählt, wie Beowulf dem dänischen König Hrothgar zu Hilfe eilt, dessen "große Halle" von einem schrecklichen Monster namens Grendel terrorisiert wird. Grendel ist ein feond on helle, wie es auf Altenglisch heißt: ein Biest aus der Hölle - eine unerträgliche Bedrohung für das noch kleine Dorf in Dänemark. Mit bloßen Händen tötet Beowulf das Monster nach hartem Kampf, nur um den Zorn von Grendels Mutter auf König Hrothgar und dessen Halle zu ziehen. Auch dieses Monster tötet der Held, und die Erzählung springt unerwartet fünfzig Jahre in die Zukunft. Beowulf ist alt und der Herrscher über sein eigenes Volk, das von einem Drachen bedroht wird. Auch das dritte Monster erschlägt er, erliegt dann aber seinen Verletzungen aus dem Kampf.

So eigenartig konstruiert und sprunghaft sich diese Handlung heute liest, so unschätzbar ist der Wert des Textes für die englische und altenglische Sprache. Ein großer Teil des altenglischen Wortschatzes ist nur über "Beowulf" bekannt. Historikern diente der Text lange als einzige Quelle aus einer ansonsten praktisch undokumentierten Zeit. Auch viele Werke der englischen Literatur nehmen mehr oder weniger konkret Bezug auf "Beowulf". Verlässt man die British Library und folgt der Euston Road einige Hundert Meter in Richtung Osten, gelangt man zum Bahnhof King's Cross. Dort, am nicht existierenden Gleis 9 ¾ steht immer eine Traube von Harry-Potter-Fans, die sich an der Stelle fotografieren lassen möchten, von der aus ihr Held ins Zauberinternat Hogwarts aufbricht. Fantasy-Welt wie die der Harry-Potter-Romane scheinen ohne "Beowulf" undenkbar. Dabei liegen die Ursprünge des Textes völlig im Dunkeln: Der oder die Autoren sind nicht bekannt. Auch über die Datierung des Textes streiten Experten. Die Meinungen reichen dabei vom 7. bis ins 11. Jahrhundert.

Dem Geheimnis auf der Spur: Ganz knuffig eigentlich: So stellte sich der Illustrator einer mittelalterlichen Handschrift den bösen Drachen vor.

Ganz knuffig eigentlich: So stellte sich der Illustrator einer mittelalterlichen Handschrift den bösen Drachen vor.

(Foto: oh)

Mysteriöser noch als der Ursprung des Textes erscheint aber die Welt, die er beschreibt. Neben den fantastischen Elementen, wie den Monstern und den übermenschlichen Fähigkeiten Beowulfs, vermischen sich in ihr heidnische und christliche Motive. Es werden Personen, Ereignisse und Texte erwähnt, die sich aus anderen Quellen belegen lassen. Dabei ist auch der Status der Monster, besonders Grendels und seiner Mutter, nicht sicher, denn eindeutig werden die Ungeheuer nie beschrieben. Stattdessen heißt es, Grendel stamme von dem Geschlecht Kains ab, also von jenem biblischen Kain, der seinen Bruder Abel erschlug - wenigstens zwei der Monster aus dem Gedicht könnten also eigentlich Menschen sein. Ob sie auf historischen Figuren basieren, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen.

Aus der Reihe der britischen Autoren, die von "Beowulf" beeinflusst wurden, sticht einer besonders heraus: J. R. R. Tolkien beschäftigte sich in den Zwanzigerjahren mit dem Gedicht und fertigte sogar eine eigene englische Übersetzung an, die erst 2014 veröffentlicht wurde.

Tolkien vermutete, dass der Autor "kein Heide war", dass er aber "zu einer Zeit schrieb, als die pagane Vergangenheit noch sehr nah war". Tatsächlich sollen die eigenartigen Mischungen aus christlichen und heidnischen Motiven ein theologisches Problem lösen: dass auf die an sich edlen Heiden, die nur das Pech hatten, nicht getauft worden zu sein, streng genommen die Hölle wartet. Der Autor wollte die skandinavischen Heiden darstellen, als folgten sie den Geboten Gottes, obwohl sie von ihnen noch nie etwas gehört haben konnten. Daher müssen auch die Monster Geschöpfe der Hölle sein. Der Autor des "Beowulf" könnte ein christlicher Gelehrter gewesen sein, dessen Werke durch Abschriften überlebten, von denen es eine in den Nowell Codex schaffte.

Wichtiger als die Frage nach dem Autor und dessen Motivation war Tolkien aber die Anerkennung des epischen Gedichts durch andere Gelehrte. In seinen Vorlesungen schrieb er dem Text die Qualität zu, die Stimmung einer vergangenen Zeit zu transportieren: Das Besondere an "Beowulf" war für ihn, dass diese eigenartige, fantastische Welt, die uns heute so rätselhaft erscheint, den Blick auf eine frühe Gesellschaft an der Schwelle zur Zivilisation eröffnet. Mit all ihren Ängsten und Unsicherheiten beschreibt "Beowulf" die Stimmung einer noch jungen, zwischen dem Archaisch-Heidnischen und dem Christlichen stehenden europäischen Kultur, die einige Hundert Jahre später Sammlungen wie die King's Library anlegen wird.

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