Zweitligist Eintracht Braunschweig:Auferstanden vom Rande des Untergangs

Im Frühjahr 2008 wäre Eintracht Braunschweig fast in die Regionalliga abgestiegen. Anschließend hat Trainer Torsten Lieberknecht den einst maroden Traditionsklub an die Spitze der zweiten Liga geführt. Am Sonntag soll der TSV 1860 München die neue Braunschweiger Stärke zu spüren bekommen.

Boris Herrmann, Braunschweig

Es gibt eine interessante Diplomarbeit mit dem Titel: "Der schwierige Spagat zwischen Tradition und Zukunft bei Eintracht Braunschweig." Zufälligerweise hat sie Torsten Lieberknecht geschrieben, der Trainer der Eintracht. Lieberknecht, 39, kennt sich aus mit Traditionsklubs, nicht nur aus theoretischer, sondern auch aus empirischer Sicht. Bevor er 2003 als Spieler nach Braunschweig kam, war er unter anderem Profi in Kaiserslautern, Mannheim und Saarbrücken. Lauter Fußball-Standorte, die beim Spagat zwischen Vergangenheit und Zukunft mit größeren Haltungsschwierigkeiten zu kämpfen haben. Lieberknecht jedenfalls hat auf seinem Lebensweg gelernt: "Tradition kann auch eine Bürde sein."

Eintracht Braunschweig - SSV Jahn Regensburg

Torjubel für Braunschweig: Dennis Kruppke (2. von rechts) und seine Teamkollegen.

(Foto: dapd)

Zur glorreichen Vergangenheit von Eintracht Braunschweig muss man nicht viel sagen. Der Klub war Gründungsmitglied der Bundesliga, er wurde 1967 Deutscher Meister und wenig später, mit der Erfindung der Trikotwerbung, wurde er auch so etwas wie der deutsche Jägermeister. Das ist weit mehr, als viele andere Vereine - zumal in Niedersachsen - vorzuweisen haben. Nur mit dieser Vergangenheit ist es zu erklären, dass die Eintracht auch in den Niederungen der Regionalliga jahrelang vor 15 000 Zuschauern spielte.

Der Blick nach hinten aber hatte auch seine Tücken. Er war offensichtlich so reizvoll, dass sich niemand um den Schritt nach vorne kümmerte. Die Idee, dass Eintracht Braunschweig auch eine glorreiche Zukunft haben könnte, ist deshalb noch relativ jung. Womöglich hatte sie ihren Ursprung im Frühjahr 2008. Zu der Zeit als der Jugend-Coach und Traditions-Experte Lieberknecht zum Cheftrainer befördert wurde.

Der Verein stand damals am Rande des Untergangs. Oder wie es Lieberknecht ausdrückt: "Wir sind dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen." Drei Spieltage vor der Sommerpause hatte er den Trainerjob von Benno Möhlmann übernommen. Ein paar Minuten vor dem Saisonende sicherte sich Braunschweig das letzte Ticket für die neu gegründete dritte Liga. "Wären wir damals in die Regionalliga abgestiegen, wären wir wahrscheinlich auch in den Abwärtsstrudel von Traditionsklubs wie Essen oder Magdeburg reingekommen", glaubt Lieberknecht.

Mittlerweile ist der Aufschwung deutlich sichtbar. Ein flüchtiger Blick an die Tabellenspitze der zweiten Bundesliga genügt schon. Dort steht Braunschweig mit 15 Punkten nach fünf Spieltagen da. So gut wie kein anderer Zweitligist in den vergangenen 15 Jahren. Vor dem Auswärtsspiel am Sonntag beim TSV 1860 München musste Lieberknecht mehr Fragen zu dieser Tabelle beantworten, als ihm lieb war. Fast alle Fragen enthielten das Wörtchen "Aufstieg". Und meistens sagte Lieberknecht dann Sätze wie diesen: "Die Tabelle ist ein Nebenprodukt dessen, was wir uns erarbeitet haben."

Punkterekord in der dritten Liga

Arbeit ist ein gutes Stichwort. Der Aufschwung in Braunschweig ist nämlich auch hörbar. Zum Beispiel dann, wenn man in den Umkleide-Katakomben der Eintracht sitzt. Der Klang des Aufschwungs wird dort von Bohrmaschinen, Betonmischern und Presslufthämmern gemacht. Ein Stockwerk höher bauen sie gerade die Haupttribüne um. Neue Vip-Räume müssen her, der Verein will endlich auch in Sachen Infrastruktur den Ausfallschritt in die Zukunft schaffen. Das Stadion an der Hamburger Straße sieht derzeit aus wie eine Großbaustelle mit angeschlossener Rasenfläche. Und manchmal ist der Aufschwung sogar so laut, dass Lieberknecht sein eigenes Wort nicht mehr versteht.

Dann geht er raus zu den Arbeitern und fragt ganz höflich, ob sie vielleicht mal zu einem kurzen Baustopp bereit wären - wenigstens so lange die Trainings-Besprechung laufe. Natürlich legen die Arbeiter dann - im Sinne des Vereins - sofort eine erweiterte Mittagspause ein. "Die bauen hier alle im Zeichen der Eintracht", sagt Lieberknecht, "an Euphorie hat es in dieser Stadt noch nie gemangelt." Wobei: Als sich Lieberknecht und sein Manager Marc Arnold, 41, im Sommer 2008 daran machten, den Braunschweiger Fußball in die Gegenwart zu hieven, da hielt sich die Euphorie zunächst in Grenzen. "Hier waren immer große Namen angesagt: Zebec, Breitner oder der Meistertrainer Johannsen. Jung und unerfahren, das ging hier gar nicht für viele", erzählt Lieberknecht.

Nach einem Punkterekord in der dritten Liga, einem achten Platz im ersten Zweitliga-Jahr sowie nun dem Sprung an die Spitze geht es inzwischen aber recht gut. Lieberknecht und Arnold haben keine Revolution veranstaltet, sie haben einfach ganz behutsam eine Mannschaft entwickelt, die taktisch extrem flexibel ist. Ein erfahrenes Kern-Team um Spieler wie Deniz Dogan oder Dennis Kruppke ergänzten sie immer wieder mit Nachwuchskräften aus tieferen Ligen. Der namhafteste Zugang des Sommers heißt Kevin Kratz. Er war wie alle anderen Zugänge ablösefrei. Die Idee ist: Wer aus der Oberliga kommt und in der zweiten Liga spielen darf, ist von ganz alleine motiviert. Zur Wahrheit gehört aber auch: Für andere Ideen wäre ohnehin kein Geld da. "Wir sind davon überzeugt, dass es auch diesen, vielleicht etwas romantischen Weg gibt", sagt Lieberknecht.

Selbstredend steckt auch hinter dieser Romanze harte Arbeit. In der Sommerpause fuhr eine kleine Delegation aus Braunschweig in die Berge von Niederösterreich, um ein Testspiel zwischen dem 1. FC Köln und Slavia Prag zu sehen. Die Kölner fühlten sich offenbar unbeobachtet, denn sie probten eine Abseitsfalle nach einem Freistoß aus dem Halbfeld. Funktionierte gut. Bloß: Im ersten Saisonspiel funktionierte die baugleiche Falle nicht mehr. Köln trat in Braunschweig an und dort war man auf den einstudierten Trick vorbereitet. Das Team von Lieberknecht gewann 1:0 - nach einem Freistoß aus dem Halbfeld.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: