Fußball-EM:Wahnsinn mit Wales

Wales v Belgium - Quarter Final: UEFA Euro 2016

Gareth Bale und Kameraden feiert vor den eigenen Fans.

(Foto: Getty Images)

Das Land mit den vielen Schafen nutzt die Schwächen der favorisierten Belgier zum 3:1 und erreicht bei seiner ersten Turnierteilnahme seit 1958 das Halbfinale der EM.

Von Claudio Catuogno, Lille

Jeder Fußballer hat Stärken und Schwächen, das weiß Radja Nainggolan wahrscheinlich besonders gut. Der Belgier vom AS Rom hat eine Schwäche für Tattoos an ungeeigneten Körperstellen - die rote Rose, die seinen Hals ziert, ist wirklich nur was für Freaks. Außerdem raucht Nainggolan, das hat sein Nationaltrainer Marc Wilmots kürzlich bestätigt. Wilmots schanzt seinem Mittelfeldspieler immer ein Zimmer mit Balkon zu: "Ich fürchte, er würde sein Hotelzimmer zerlegen, wenn ich ihm das Rauchen verbieten würde."

Nun hat Radja Nainggolan aber auch eine unumstrittene Stärke. Er hat einen strammen, präzisen Schuss.

Freitagabend in Lille, das zweite Viertelfinale dieser EM zwischen Belgien und Wales, Belgien ist von Beginn an überlegen, alles läuft auf einen einfachen Erfolg des Favoriten hinaus. Eden Hazard spielt den Kollegen Nainggolan vor dem linken Strafraumeck an. Nainggolan hat viel Zeit zum Zielen - dann schlägt der Ball auch schon im Torwinkel ein. 1:0 für Belgien. So würde es doch jetzt weitergehen - oder?

"Wenn ich im Viertelfinale bin, will ich nur noch eins: ins Finale", hatte Wilmots vor dem Spiel getönt, als gelte die alte Fußballerregel, immer von Spiel zu Spiel zu denken, für die Belgier nicht. Finale - daraus wird nun nichts.

Nach dem Abpfiff sanken Nainggolan und die anderen noch nicht mal auf den Rasen, wahrscheinlich waren sie selbst dazu zu fassungslos. Es jubelten: Gareth Bale, Ashley Cole sowie all die anderen aus dem Westzipfel des britischen Königreichs. Wales steht am Mittwoch in Lyon im Halbfinale gegen Portugal, bei seiner ersten EM-Teilnahme überhaupt. Wales bezwang Belgien durch Tore von Ashley Williams, Hal Robson-Kanu uns Sam Vokes 3:1 (1:1).

Die ohnehin leicht verwirrten Denayer und Lukaku wurden vollends schwindelig gespielt

So offensichtlich die Stärke der Belgier in der Offensive auch war - vor allem verbunden mit Eden Hazard und Kevin De Bruyne -, so wenig konnte am Freitag die Abwehr diesem Standard gerecht werden. Zumal Wilmots sie zur Hälfte austauschen musste: Thomas Vermaelen fehlte wegen einer Gelb-Sperre, für den Linksverteidiger Jan Vertonghen ist die EM wegen einer Fußverletzung zu Ende. Stattdessen standen Jason Denayer und Jordan Lukaku vor dem Torwart Thibaut Courtois. Es war der Anfang vom Ende der belgischen Titelträume - und vermutlich auch des Nationaltrainers Marc Wilmots.

Eine besondere Stärke ist es im Fußball, die Schwäche des Gegners zu erkennen und zu nutzen. "Wir wissen, wie Belgien spielt", hatte Gareth Bale angekündigt. Aber niemand hatte wohl geahnt, wie explizit sich dieses Wissen auf die löchrige linke Abwehrseite bezog. Die Waliser trugen ihre Angriffe fast ausschließlich über diese Seite der Belgier vor, ihr Plan war, die ohnehin tendenziell verwirrten Denayer und Lukaku vollends schwindelig zu spielen. Einer dieser Angriffe brachte den Walisern eine Ecke - Aaron Ramsey zirkelte sie zentral vors Tor. Ashley Williams musste nur noch einköpfeln zum 1:1-Ausgleich (31.).

"Das größte Spiel, das dieses Land seit 1958 hatte", so hatte der Trainer Chris Coleman sich auf die Partie gefreut - und "a hell of a game" erwartet, frei übersetzt: ein Wahnsinnsspiel. Das wurde es tatsächlich. Und es wurde ein Höllenspiel für die Belgier, die immer hilfloser anrannten, aus allen Lagen schossen, aber nun trotzdem raus sind, und zwar völlig verdient.

Dabei war die Gelegenheit, endlich mal ein großes Finale zu erreichen, für Marc Wilmots und seine Elf so günstig erschienen wie nie zuvor. Als Geheimtipp gelten sie ja schon lange nicht mehr mit ihrer sogenannten "Goldenen Generation" - in der Weltrangliste stehen sie auf Rang zwei. Nun spielten sie auch noch in Lille, nur 20 Kilometer von der belgischen Grenze entfernt. Und sie hatten definitiv den vermeintlich leichtesten Weg ins Finale - all die Favoriten versammelten sich schließlich auf der anderen Seite des Tableaus.

Aber die Waliser haben Bale in ihren Reihen, einen Spieler, der jeder Partie in jedem Moment im Alleingang eine andere Wendung geben kann. Das Bemerkenswertes an dieser Partie war dann aber, dass es gar nicht auf Bales Geniestreiche ankam. Die Waliser funktionierten als Team.

Die 55. Minute: Hal Robson-Kanu, mit dem Rücken zum Tor, stoppt im Strafraum den Ball, täuscht ein Abspiel vor - und in dem Moment, in dem alle Belgier davonstürmen, weil sie mit einem Pass rechnen, dreht sich Robson-Kanu um die eigene Achse und schießt zum 2:1 ein. Definitiv eines der schönsten Tore dieser EM. Dann die 85. Minute: Chris Gunter flankt von rechts, der eingewechselte Sam Vokes nickt ein, 3:1 für Wales, das war's.

Und dem Trainer Marc Wilmots dürfte an der Seitenlinie vielleicht die Erkenntnis gekommen sein, dass eine der Schwächen dieser belgischen Titelmission auch er selbst war.

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