Fußball-EM:Der zufriedene Mario Gomez

Northern Ireland v Germany - EURO 2016 - Group C

Mario Gomez (vorne): Hätte das Fachwissen, um einen Ratgeber über Lebensglück zu schreiben

(Foto: REUTERS)

Bei der EM ist dem Stürmer ein unerwartet gutes Comeback geglückt. Er will nachholen, was er in Brasilien verpasst hat.

Von Philipp Selldorf, Évian

Es gibt nicht viele Fußballer in der deutschen Mannschaft, die an der Europameisterschaft so viel Freude haben wie Mario Gomez, 30. In seiner an Hochs und Tiefs reichen Biografie nimmt dieses Turnier bisher einen vorderen Platz unter den schönsten Fußballerlebnissen ein, seine Geschichte in Frankreich ist die Geschichte einer grandiosen und ungewöhnlichen Wiederkehr.

Am Mittwoch aber sah sich Gomez durch die Anschläge am Istanbuler Flughafen schlagartig mit der bitteren Wirklichkeit konfrontiert. Der DFB hatte ihn aus dem Mannschaftshotel zur Pressekonferenz gebracht, damit er über seine EM und sein persönliches Glück bei diesem Turnier spricht, doch zunächst sollte Gomez dann aus gegebenem Anlass die grausamen Nachrichten kommentieren. Seit einem Jahr lebt er in der türkischen Metropole, mit dem Istanbuler Spitzenklub Besiktas feierte er im Mai den Gewinn der Meisterschaft. Es hat in dieser Zeit mehrere Anschläge in der Stadt gegeben, "das ist ein Faden, der sich durch die letzten Monate zieht", sagte er, "es ist ein sehr trauriges Thema. Das Land wird darunter leiden, und auch die Liga wird darunter leiden. Es ist ein Thema, das sehr viele berührt."

Die Überleitung zur Banalität des Fußballs fällt naturgemäß schwer, wenn man sich einer Hundertschaft Reporter gegenübersieht und von zwei Dutzend Fernsehkameras ins Bild gesetzt wird. Gomez hat erklärt, man müsse das Geschehene ausblenden: "Wenn die ersten Nachrichten kommen, sind wir alle geschockt. Aber bei uns geht es weiter, wir müssen uns auf Italien konzentrieren. Der Fußball ist immer ganz gut, den Fokus umzulenken. Das funktioniert auf dem Trainingsplatz und bei den Spielen."

Typisch, wie Gomez mit Löw verblieben ist

Die Welt hört nicht auf, sich zu drehen, und der Fußball rollt immer weiter über die Spielfelder, das sind zwei sehr, sehr simple Einsichten, aber manchmal braucht es auch ein Stück Weisheit, um selbst die einfachsten Erkenntnisse zu verinnerlichen. Gomez hat sich im Laufe seiner bald 13 Jahre währenden Fußballerkarriere allzu oft mit den Komplikationen auseinandergesetzt, die seinem Beruf innewohnen. Seine Nachdenklichkeit und seine Empfindsamkeit zeichnen ihn als Menschen aus, für die Karriere waren diese Eigenschaften gewiss nicht immer von Vorteil.

Abgesehen von seiner Rolle als öffentliche Person, von den Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden, von Karriereplänen und Geschäftsbeziehungen hat sich der Angreifer immer auch um die eigene Verantwortlichkeit gesorgt: "Früher dachte ich: Ich muss es allein richten mit meinen Toren. Heute will ich dass die anderen sehen: Der rackert, der bringt sich ein, der hilft uns." So hat er es im Trainingslager in Ascona erzählt. Typisch auch, wie Gomez mit dem Bundestrainer verblieben ist, als dieser ihn nicht mit zur WM nach Brasilien nahm: "Ich habe ihm gesagt: Ich bin das Problem, ich bin nicht fit, ich bringe nicht die Leistung, die nötig ist, und die ich von mir selbst erwarte."

Man kann nun mit Gomez Fußball spielen

In Frankreich nun hat Gomez bisher ungefähr hundertmal erzählt, dass er gelernt habe, "den Moment voll zu leben und zu genießen". Von der Verbreitung solcher Vorsätze und den dazu passenden Handlungsanweisungen lebt eine komplette Ratgeberindustrie. Gomez könnte inzwischen womöglich auch ein Handbuch über das bewusste Lebensglück schreiben, und das Tolle ist, dass er das dazu nötige angewandte Fachwissen mitbringt. Vor allem aber: die nötige Aufrichtigkeit. Sein neues Ansehen als zufriedener, ehrlicher Mensch hat sich rasend verbreitet binnen der vergangenen sechs Wochen.

Vor dem Turnier hat er gesagt, dass er auch dann ein froher Mann sein werde, wenn er am Ende bloß drei Minuten gespielt habe - und man war versucht, ihm zu glauben; in Frankreich sagte er, dass er sich bedingungslos den Beschlüssen des Bundestrainers fügen werde ("ich akzeptiere alles!") - und man hat es ihm abgenommen; und nachdem er nach zwei Treffern gegen Nordirland und gegen die Slowakei erklärte, es sei ihm egal, ob er ein Tor schieße - auch dann hat man ihn nicht ausgelacht. Ein Mittelstürmer, dem es egal ist, ob er Tore schießt - Mario Gomez macht es möglich.

Er sucht sein Brasilien in Frankreich

Dennoch dürfte es für seine Anerkennung und sein persönliches Wohlbefinden einigermaßen nützlich gewesen sein, dass er am Ende halt doch seiner natürlichen Bestimmung entsprochen und Tore geschossen hat. Aber Gomez ist in Frankreich eben nicht mehr nur die wandelnde Torfabrik der früheren Tage, in denen er besonders unter den aristokratischen Fußball-Ästheten in minderer Geltung stand. Was Lothar Matthäus dieser Tage sagte, ist während dieser EM eine Art Common Sense geworden: "Mario Gomez hat sich enorm verbessert. Mit ihm kann man Fußball spielen."

Bei der WM in Brasilien gehörte Gomez noch zu den großen Verlierern. Vor der WM, weil er nicht nominiert wurde. Und nach der WM, weil er von weiten Teilen des Publikum ausgemustert wurde. Es schien ja klar zu sein, dass die in Brasilien verhinderten Ilkay Gündogan, Holger Badstuber und Marco Reus dann eben beim nächsten Turnier auf dem Platz stehen würden (bekanntlich kam es anders).

Über Gomez herrschte die Auffassung, dass seine Laufbahn im Nationalteam in beiderseitigem Einvernehmen beendet worden sei. Und so sah es zunächst ja auch für ihn selbst aus: "In den letzten beiden Jahren wurde ich in der Nationalelf nicht gebraucht. Auf mich hat keiner gewartet - es war mein Job zurückzukommen." Job getan, aber nicht erledigt. Ab jetzt, sagt er, zähle nur der Titelgewinn: "Ich will in Paris jubeln, wie es die Jungs in Brasilien getan haben."

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