Zeitspiel bei der Fußball-WM:Gaaaanz laaaaaangsam

World Cup - Semi Final - France v Belgium

Hatte es zum Ende des Halbfinals nicht so eilig: Frankreichs Kylian Mbappé.

(Foto: REUTERS)
  • Auch bei dieser Fußball-WM wird auf Zeit gespielt, die Zuschauer ärgern sich darüber.
  • Die Fifa verhängt zwar längere Nachspielzeiten, mit einem noch effektiveren Schritt zögert sie aber noch.
  • In anderen Sportarten sind Netto-Spielzeiten längst etabliert.

Von Martin Schneider, Moskau

Es klingt unglaublich, aber manchmal ist die Fifa ihrer Zeit voraus - und das ausgerechnet beim Thema Zeitspiel. Das ist bei dieser Weltmeisterschaft wieder ein Thema, wie es immer Thema ist, sobald sich zwei Mannschaften in einem K.o.-Spiel gegenüberstehen. In der Kreisliga sagt man dazu: auf den Ball setzen. Es geht darum, irgendwie Sekunden rauszuholen, beliebte Strategien sind: Den Spieler auf der anderen Seite des Spielfeldes auswechseln, der dann möglichst rückwärts zur Bank geht, Krämpfe kriegt und sich behandeln lässt. Oder: die Ausführung von Freistößen verhindern. Im WM-Halbfinale Frankreich gegen Belgien kassierte Kylian Mbappé in der Nachspielzeit noch Gelb, weil er den Ball wegkickte.

Zuschauer ärgern diese Bilder. Man will eine spannende Schlussphase und sieht stattdessen Fußballer, die versuchen, einfachste Bewegungsabläufe gaaaanz laaaaaangsam auszuführen. Das sorgt für Wut - aber was will man tun? Den Franzosen zurufen: Spielt halt gescheit mit und riskiert noch den Ausgleich? Die Antwort auf die Frage ist: Man kann viel dagegen tun. Und der Weltfußballverband Fifa hat das Konzept dazu längst in der Schublade.

Sechs Minuten Nachspielzeit sind keine Seltenheit

Für Fußball-Regeln verantwortlich ist ein einigermaßen kurioses Gremium namens International Football Association Board, kurz IFAB. In diesem Gremium sitzen vier Fifa-Mitglieder und vier Mitglieder aus England, Wales, Nordirland und Schottland. Weil dort der Fußball erfunden wurde und Fußball-Regeln in der Vergangenheit so unflexibel waren, dass niemand einen Anlass sah, darauf hinzuweisen, dass Fußball nun auch außerhalb Nordirlands gespielt wird.

Vor gut einem Jahr, bei der 130. Jahrestagung dieses Boards, entstand aber ein Papier namens "Play fair", das man eigentlich als revolutionär bezeichnen muss. Darin wurden verschiedene Regelkorrekturen benannt, die im Fußball denkbar wären, ein ganzes Kapitel beschäftigt sich auch mit dem Thema Spielzeit. Darin heißt es unter anderem: "Viele Menschen sind sehr verärgert, wenn ein normalerweise 90-minütiges Spiel weniger als 60 Minuten effektive (tatsächliche) Spielzeit aufweist." Der Satz spielt darauf an, dass die Zeit, in der effektiv Fußball gespielt wird, bei einem Match stets um die 60 Minuten beträgt, der Rest geht durch Unterbrechungen drauf. Die vorgeschlagenen Maßnahmen unterteilt das Papier dann in drei Kategorien: A) Kann sofort umgesetzt werden. B) Könnte getestet werden und C) Könnte man diskutieren.

Unter A) empfiehlt das Gremium, die Nachspielzeit strenger zu berechnen und mehr Minuten nachspielen zu lassen. Das ist bei dieser Weltmeisterschaft schon geschehen, beim Halbfinale Frankreich gegen Belgien zeigte der Assistent an der Linie sechs Minuten Nachspielzeit an. Auch in der Premier League in England sind Nachspielzeiten von mehr als fünf Minuten üblich, in der Bundesliga wird das viel defensiver gehandhabt. Außerdem empfehlen die Regelhüter unter B), dass Auswechselspieler das Feld nicht zwangsläufig an der Mittellinie verlassen müssen, sondern an der nächstgelegenen Stelle die Außenlinie überschreiten sollten - was die Strategie, den entferntesten Spieler auszuwechseln, vermasseln würde.

Erst unter Punkt C) stehen die radikalsten Konzepte. Man könnte zum Beispiel eine Netto-Spielzeit einführen, heißt es dort. Entweder über die gesamte Dauer des Spiels (und dann die Spielzeit auf 60 Minuten verkürzen, was den alten Sepp-Herberger-Spruch obsolet machen würde) oder das Konzept der Netto-Spielzeit in den letzten fünf Minuten der ersten und in den letzten zehn Minuten der zweiten Halbzeit anwenden. Erfahrungsgemäß, schreibt das Board in dem Papier, sei das die Zeit, in denen Spieler am wahrscheinlichsten "auf Zeit spielen." Aber der 80. Minute müsste man so die Zeit spielerisch herunterspielen. Jede Unterbrechung würde nur dazu führen, dass die Uhr angehalten wird.

So radikal dieses Konzept in der Welt des Fußballs klingt - wenn man sich andere Sportarten anschaut ist es eigentlich faszinierend, dass der Fußball den Spielern immer noch die Möglichkeit gibt, überhaupt so ein Theater zu veranstalten. Im Eishockey, Handball und im Basketball gibt es längst Netto-Zeiten und bei den beiden letztgenannten ein Sekunden-Zeitrahmen, in dem ein Angriff abgeschlossen werden muss. Im Volleyball gibt es gar keine Möglichkeiten, man kann sich ja nicht den Ball ununterbrochen zuspielen, Rugby wird mit fortlaufender Uhr gespielt, allerdings mit der Option, sie bei Verletzungen anzuhalten. Fußball ist somit die einzige Mannschaftssportart, in der man überhaupt auf Zeit spielen kann. Zu bestaunen vermutlich am Sonntag, ab 18.30 Uhr, im WM-Finale.

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