4x100 Meter:Goldjungs

Rio 2016 Paralympics

Felix Streng (r.) gewinnt über 100 Meterin Bronze, Felix Behre wird nach einem völlig missglückten Start nur Siebter. In der Staffel wollen sie gemeinsam Gold holen.

(Foto: Jens Büttner/dpa)

Der Star der Spiele, ein Athlet mit besonderer Mission, zwei Talente: Die deutsche Staffel steht für die Entwicklung des Behindertensports.

Von Sebastian Fischer, Rio de Janeiro/Berlin

Weil Geschichten über Behindertensport oft mit Erzählungen vom Schicksal anfangen, beginnt diese ausnahmsweise mal mit einem Witz. Sitzt der Weltmeister über 400 Meter mit amputierten Unterschenkeln nach dem Training in der Sonne, kommt sein Herausforderer vorbei und sagt: "Ich klau dir deine Beine." Antwortet der Weltmeister: "Da musst du sie mir erst mal abschrauben."

Der Weltmeister, das ist David Behre, sein Herausforderer heißt Johannes Floors. Daneben sitzen an einem Nachmittag im August im Leistungszentrum Kienbaum, vier Wochen vor den Paralympics, der einseitig amputierte Sprinter Felix Streng und der einseitig amputierte Weitspringer Markus Rehm; also jene vier Athleten, die für Deutschland bei den Paralympics in der 4x100-Meter-Staffel antreten. Sie kichern.

An diesem Montag läuft die deutsche Staffel in Rio de Janeiro um eine Medaille, Goldfavorit sind die Amerikaner. Die Staffel ist immer ein Höhepunkt der Spiele, 2012 gewann Deutschland Bronze, Rehm und Behre waren schon dabei. Diesmal ist die Staffel mitten ins Programm hineingeworfen worden, nicht wie sonst der Abschluss. Aber diesmal ist sie eine Gruppe mit Symbolkraft; sie zeigt, wie Einzelsportler zu einem Team verschmelzen können. Und sie zeigt ganz nebenbei die Facetten des hoch entwickelten Behindertensports im Jahr 2016.

Der Fahnenträger

Rehm, 28, ist der Startläufer der Staffel und gerade der wohl bekannteste paralympische Athlet der Welt, bei der Eröffnungsfeier trug er die deutsche Fahne. Rehm, der mit seiner Prothese unterhalb seines rechten Knies 8,40 Meter weit springt und 2012 mit seiner Bestleistung Olympiasieger bei den Zweibeinigen geworden wäre, wollte bei den Olympischen Spielen mitmachen. Er gab eine Studie in Auftrag, die belegen sollte, dass ihm seine Prothese keinen Vorteil bringt, doch die Ergebnisse waren uneindeutig.

Rehm sagt über seinen Start bei den Paralympics - im Weitsprung und in der Staffel: "Da bin ich stolz drauf". Doch nach den Paralympics wird er wieder dafür kämpfen, bei der WM 2017 in London mit den Nichtbehinderten starten zu dürfen. "Ich möchte irgendwann sagen können, der paralympische Sport hat eine tolle Entwicklung gemacht - und ich hatte einen Anteil daran", sagt er, für ihn ist der Kampf eine Lebensaufgabe geworden. Es ist ein Kampf, der ihn abhebt aus der Masse der Behindertensportler, er polarisiert. Aber in der Staffel ist er nur ein Teil. "Keiner ist der wichtigste Teil", sagt Rehm.

Der Schicksalsläufer

In Kienbaum trainiert die Staffel Anfang August ihre Wechsel. "Hepp", schallt es über die Anlage, dass man es auch nebenan bei den Kugelstoßern hört, "hepp", bei jedem Wechsel. Laut zu rufen, selbstbewusst aufzutreten, sagt der Staffeltrainer Karl-Heinz Düe, das macht Eindruck, auch bei den Amerikanern. Deutschland ist Weltmeister geworden 2015 in Doha. Rehm, Behre, Streng und Floors haben dort die USA geschlagen. Sie alle trainieren bei Bayer 04 Leverkusen, kennen sich gut, das ist ihr Vorteil.

Wenn Rehm sagt, dass die Spiele für ihn der Höhepunkt des Jahres sind, dann sind sie für David Behre, den zweiten Läufer, der Höhepunkt eines ganzen Sportlerlebens. In London hatte er mit den Folgen einer Verletzung zu zu kämpfen, diesmal ist er besser vorbereitet, über 400 Meter will er Gold gewinnen, darauf ist alles ausgerichtet. Er hat neue, anders geschwungene Prothesenfedern, kann längere Schritte machen. Man könnte auch sagen: Er kann sich jetzt besser quälen.

"Gesund ist das nicht", sagt er über den Leistungssport. Nach jedem Lauf muss er seine Prothesen abnehmen, die Stümpfe seiner oberhalb der Knie amputierten Beine schwitzen. Vor jedem Lauf wuchtet er die Prothesen, eingepackt in zwei Socken, wieder in den Silikonschaft, stampft auf den Boden, um die Luft zwischen Stumpf und Prothese entweichen zu lassen. Der Stumpf entzündet sich immer wieder. Der Sport ist nur gesund für den Kopf.

Behre, 29, Ruhrpott-Farbe in der Stimme, steht für eine Generation von Behindertensportlern, die sich emanzipiert vom Fokus auf das Schicksal, das sie zu Leistungssportlern machte. Natürlich sind es die Erzählungen vom Wieder-aufstehen und Niemals-aufgeben, die viele der Geschichten aus Rio besonders machen. Aber wenn es nach den Sportlern geht, soll es vor allem um ihre Leistung gehen. Behre hat deshalb ein Buch geschrieben.

Sein Unfall war dramatisch, "krass", sagt er selbst. Mit 20 fuhr er mit dem Fahrrad über einen Bahnübergang, wurde vom Zug erfasst, mitgeschleift, verlor beide Beine, robbte nach Stunden der Bewusstlosigkeit blutend den Bahndamm hoch, überlebte und entschloss sich im Krankenhaus, Sportler zu werden. Er hat die Fragen dazu tausendmal beantwortet, ausführlich in seiner Biografie. Behre will frisch verunfallte Menschen inspirieren, besucht sie im Krankenhaus, will später ein Rehazentrum leiten. Aber er schrieb das Buch auch wegen der ständig gleichen Anfragen, die oft so klingen wie die eines eines Fernsehteams neulich: Ob er sich bitte noch einmal auf die Gleise von damals legen könne? Man würde gerne den Unfall nachstellen. Behre lehnte ab. Er sagt: "Jetzt ist auch mal David Behre, der Sportler, gefragt - und nicht das Unfallopfer, das überlebt hat."

Die Zukunft

Behre übergibt am Montag auf Felix Streng - und der auf den Schlussläufer Johannes Floors. In Kienbaum im August müssen sie an den Wechseln noch feilen, besonders Streng ist frustriert, er verschenkt noch Zeit und Meter. Streng und Floors, 21, stehen für die Zukunft.

Streng, breite Schultern, höfliches Lächeln, mag das Wort "behindert" nicht, er sagt lieber "paralympisch". Er ist ohne rechten Unterschenkel auf die Welt gekommen, aber es war für ihn immer selbstverständlich, dazuzugehören. Inklusion ist das große gesellschaftspolitische Thema, das die Spiele flankiert. Streng würde sich noch etwas mehr davon wünschen, im Großen wie im Kleinen. Leverkusen ist ein vorbildlicher Standort in Deutschland, seit Jahren trainieren hier Behinderte mit Nichtbehinderten. Aber warum, fragt Streng, tragen eigentlich selbst in so einem Verein die Behinderten und die Nichtbehinderten verschiedene Trainingsklamotten?

Andererseits beginnt er seine Laufbahn als geförderter Leistungssportler in Dimensionen, die vor ein paar Jahren noch Wunschtraum waren; erstmals bei Sommerspielen bekommen die paralympischen Sportler zum Beispiel die gleichen Prämien wie bei Olympia. Streng machte sein Abitur in der Sportlerklasse in Leverkusen, er macht jetzt eine mit dem Sport abgestimmte Ausbildung. In Großbritannien, wo der paralympische Sport populärer ist, läuft er auf Diamond League Meetings vor tausenden Menschen. Die Älteren sagen ihm manchmal: "Sei dankbar, du wächst im Luxus auf." Streng sagt: "Es ist unser Ziel, noch weiter für Anerkennung zu sorgen." In Rio hat er über 100 Meter am Samstag Bronze gewonnen, zu Silber fehlte ihm eine Hundertstel. Die Staffel, sagte er danach, habe er schon im Hinterkopf gehabt.

Floors, wie David Behre beidseitig über dem Knie amputiert, soll die deutsche Staffel ins Ziel laufen. Er kam mit einem Fibula-Gendefekt auf die Welt, mit zu kurzen Beinen, war nur 1,60 Meter groß. Mit 16 ließ er sich die Beine amputieren, mit 18 lief er erstmals auf Sprintprothesen, ein Jahr später lief er Europarekord. Er ist das Gesicht eines Fernsehspots eines Großsponsors, der schon bei den Olympischen Spielen vor den Wettkämpfen ausgestrahlt wurde; auf seinen Prothesen läuft er darin als Erster ins Ziel, vor Nichtbehinderten.

Nach der Operation im Krankenhaus, als seine Füße weg waren, ging Johannes Floors ein schöner Gedanke durch den Kopf. Und auch wenn niemand weiß, wie Markus Rehms Kampf für Inklusion im Leistungssport ausgehen wird oder ob David Behre ganz allein für seine Leistung Anerkennung erfährt - vielleicht ist es ein Gedanke, der auch ein wenig für die Sportbewegung steht, die in Rio weiter wächst. Floors dachte: "Mir steht die Welt offen, es wird einfach gut."

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