WM 2010: Thomas Müller:Ein Witz verhindert das Halbfinale

Wegen einer sehr umstrittenen gelben Karte fehlt Thomas Müller gegen Spanien. Den Deutschen geht damit das Sinnbild unermüdlichen Einsatzes und größtmöglicher Spielintelligenz abhanden. Nur Diego Maradona ignoriert ihn weiterhin.

Thomas Hummel, Kapstadt

In dieser einen Minute wusste Thomas Müller einmal nicht, wohin er laufen sollte. Er ging ein paar Schritte auf Ravshan Irmatow zu, der ihn gerade aus dem Halbfinale gepfiffen hatte, er fasste sich mit den Händen an den Kopf. Er drehte sich, ging hierhin, blickte dorthin, suchte irgendwo nach Halt. Bis er Bastian Schweinsteiger erblickte, und obwohl niemand im Green Point Stadion ob der Vuvuzelas etwas verstand, war dennoch deutlich von den Lippen abzulesen: "Das ist doch ein Witz!" Bastian Schweinsteiger nahm seinen Mitspieler kurz in den Arm.

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Verzweiflung nach der gelben Karte: Thomas Müller ist im Halbfinale gesperrt.

(Foto: afp)

Thomas Müller aus Pähl im Landkreis Weilheim-Schongau ist der vermutlich aufgeweckteste Kerl dieser Fußball-Weltmeisterschaft. Doch selbst seine Geistesgegenwart reichte nicht aus, um dem Unglück in der 35. Minute zu entrinnen. Da köpfte ihm ein Argentinier den Ball aus kurzer Distanz gegen den Oberkörper, von dort prallte er gegen seinen linken Arm. Schiedsrichter Irmatow wertete dies als absichtliches Handspiel des Deutschen, was bei sachgerechter Betrachtung mindestens fragwürdig war, und holte die gelbe Karte aus seiner Brusttasche. Weil Thomas Müller bereits in der Vorrunde gegen Ghana eine Verwarnung erhalten hatte, wird er im Halbfinale gegen Spanien fehlen.

Der 20-Jährige aus dem Alpenvorland ist ein bodenständiger Mann, der das Leben nimmt, wie es kommt. Für die tragische Rolle im Fußballtheater taugt er nicht. Doch diese Entscheidung brachte ihn ins Wanken. Auf dem Spielfeld fasste er sich bald wieder und freute sich schließlich ausgelassen über das irrwitzige 4:0 gegen Argentinien. Doch nach dem Duschen schlenderte ein merklich betrübter Müller zum Mannschaftsbus. "Ich hab mich schon ein bisschen geärgert, das war schon sehr hart", sagte er. Wer ahnt, wie wenig dieser Thomas Müller zum Jammern neigt, der kann das Ausmaß seines Ärgers ermessen.

Und so schätzte er sich vermutlich selbst richtig ein, als er anfügte: "Ich werd' das schon irgendwie packen." Fraglicher erscheint, ob seine Mannschaft die Gelbsperre verkraften wird. Denn dieser Thomas Müller, der vor dem ersten Spiel gegen Australien keineswegs einen Stammplatz im deutschen Team sicher hatte, verursacht bei den gegnerischen Abwehrreihen bei dieser WM schneidende Schmerzen.

Wie dieser Müller den Gegenspielern entkommt, wird wohl immer sein Alleinstellungsmerkmal bleiben. Er ist weder besonders schnell, noch ist er besonders kraftvoll, er kann keine außergewöhnlichen Tricks - und doch kommt er an jedem Gegenspieler vorbei, schleicht sich in die freien Räume und steht erstens immer frei und zweitens immer dort, wo der Ball hinfliegt. Beim 1:0 nach einem Freistoß von Schweinsteiger erzielte er sein viertes Turniertor, es kommen noch drei Torvorlagen hinzu.

Trochowski, Cacau oder Kroos?

Keine Szene illustrierte den Wert dieses Müllers besser, als seine Vorarbeit vor dem spielentscheidenden 2:0. Eine Szene voll unermüdlichen Einsatzes und größtmöglicher Spielintelligenz. Mit dem Rücken zum Strafraum erhielt er den Ball, durch einen gezielten Stoß des Gegenspielers fiel Müller auf den Hintern, der Angriff schien beendet, 99 Prozent aller Fußballer hätten die Arme gehoben und einen Freistoß eingefordert. Doch Müller krabbelte auf allen Vieren dem Ball hinterher und erblickte auf wundersame Weise hinter ihm Lukas Podolski, den er mit einem gekonnten Sitzpass in den völlig freien Raum schickte. Podolskis Vorlage und Kloses Tor waren Anhängsel von Müllers Wirken.

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Mögliche Partner für Mirsolav Klose nach der Sperre gegen Thomas Müller: Piotr Trochowski und Toni Kroos.

(Foto: afp)

Bundestrainer Joachim Löw war denn auch wenig erfreut von der gelben Karte für seinen Stürmer. "Sein Ausfall wiegt schwer, weil er gezeigt hat, wie torgefährlich er ist." Doch der Kader werde, gab sich Löw ungerührt zuversichtlich, selbst diesen Thomas Müller am Mittwoch in Durban ersetzen können. Als erster Aufrücker gilt Piotr Trochowski, der auch in Kapstadt für den von Muskelkrämpfen geplagten Münchner für die letzten sechs Minuten auf das Feld kam. Doch verkörpert der Hamburger einen anderen Spielertyp, weniger offensiv, weniger torgefährlich, eher geeignet, an einem Kombinationsspiel im Mittelfeld teilzunehmen.

Und so kommt je nach taktischer Vorgabe auch der 20-jährige Toni Kroos in Frage, der von Löw seit dem ersten Trainingslagertag in Südtirol unablässig gelobt wird und sich nach seiner Einwechslung im zentralen Mittelfeld wieder tadellos ins Gefüge einbrachte. Oder Löw will weiterhin mit Sturm und Drang auf der rechten Seite die Welt erobern, was auf eine Rückkehr von Stürmer Cacau hindeuten würde. Allerdings musste der Stuttgarter nach seiner Bauchmuskelzerrung wieder das Training abbrechen (auch Sami Khedira absolvierte wegen einer Muskelverhärtung nur eine Reha-Einheit).

Der spanische Trainer Vicente del Bosque dürfte jedenfalls dankbar sein für diese gelbe Karte des Herrn Irmatow, mit dem seine Spanier nun dem Herrn Müller entgehen. Del Bosque ist als durchaus akribischer Trainer bekannt, der die gegnerischen Stärken studiert. Offensichtlich ganz im Gegensatz zu Diego Maradona.

Nach dem Testspiel im März in München, als Müller sein erstes Länderspiel für Deutschland bestritten hatte, wurden Maradona und Müller versehentlich gleichzeitig zur Pressekonferenz auf das Podium geschickt. Maradona gab zu, dass er den jungen Deutschen für einen Balljungen gehalten hatte. Doch Maradona beschloss auch nach diesem 0:4 diesen Müller weiterhin zu ignorieren. Er haderte über das schnelle 1:0 und immer wieder klagte er, dass dieser Friedrich einen Schritt schneller beim Kopfball war. Die argentinische Sportzeitung Olé titelte deshalb am Sonntag: "Diego, der Junge heißt Müller."

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