WM 2010: Taktik:Künstler gegen Pinguine

Fans hoffen nach der Sicherheits-WM 2006 auf ein Turnier des Offensivfußballs - Experten diskutieren, ob Ballbesitz oder schnelle Konter zielführender sind.

Moritz Kielbassa

2006: Traumtor und Italo-Riegel

WM Taktik Spielzug Argentinien Serbien

Argentiniens Tor bei der WM 2006 gegen Serbien.

(Foto: SZ-Graphik Daniel Braun)

Es war das prachtvollste Tor der WM 2006: Von einem Argentinier zum anderen lief der Ball, über 25 Stationen, mit kurzen und langen Pässen, Hacke und Spitze, bis Cambiasso zum 2:0 gegen Serbien traf. Neun Argentinier schufen das Tor, ohne dass ein Gegner den Ball berührte, sie ließen das Leder spinnennetzartig über das Gras flitzen. Jenes mannschaftliche Kunstwerk war aber nur ein Solitär der WM 2006. Zwar zeigte auch die deutsche Elf neue Spielkultur. Doch beherrscht wurde das Turnier von Teams mit cleveren Defensivkonzepten. Im Finale standen: Italien (zwei Gegentore in sieben Spielen) und Frankreich (drei Gegentore). Zum Gesicht und besten Spieler der WM wurde kein Zauberer oder Torjäger. Sondern Fabio Cannavaro, Dirigent von Italiens Weltmeister-Abwehr.

Nichts Neues am Kap?

Und in Südafrika? Was bringen die Weltfestspiele 2010? Wieder einen Sieg der Sicherheitsstrategen? Oder sehen die WM-Touristen modernen, schnellen Angriffsfußball, wie er bei der EM 2008 überwog? Oder einen Mix aus allem - wie zuletzt in der Champions League, die für Trends inzwischen maßgeblicher ist als die WM? Eine Fußball-WM ist keine Automobil- oder Computermesse, die staunenswerte Neuheiten präsentiert. Bisher unentdeckte Systeme und Rezepte für das Rasenspiel sind am Kap nicht zu erwarten, allenfalls neue taktische Details.

Schleichwege und Schnellstraßen

Die spannendste Debatte für die WM ist, welche Spielauffassung das Runde am besten ins Eckige bringt: Stilvoller Ballbesitz, so dass man selbst den Steuerknüppel des Spiels in der Hand hat und der Weg zum magischen Moment der Toraktion oft geduldig über Schleichwege führt - und plötzliche Beschleunigung? Oder den Gegner im Niemandsland agieren lassen - und, sobald man des Balles habhaft wird, die Schnellstraße benutzen, steil und direkt das Mittelfeld überqueren, umschalten und kontern?

Wettstreit der Kulturen

Lange galt der physische Highspeed- Fußball aus Englands Premier League als nachahmenswertes Vorbild. 2009 gewann Brasilien mit diesem Stil den Confed-Cup, für Deutschland war Tempo 2006 noch eine Innovation. Langsam spielt heute niemand mehr. Zuletzt aber fanden auch Teams ihr Glück, deren Grundlage filigrane Ballkontrolle ist: wie Europameister Spanien, FC Barcelona oder FC Bayern. Sie bauen bedacht über viele Stationen auf, scheuchen den Gegner müde. Ballkreiseln bereitet Attacken in die Tiefe vor, Dribblings und Soloaktionen sind Teil des Plans. Das Finale der Klub-WM 2009 war ein Wettstreit der Kulturen: Barcelona (Dogma: Ballbesitz) gegen Estudiantes de La Plata/Argentinien (lange Bälle, Konter), 2:1. Bei Barça wurden 69 Läufe mit Ball in der Angriffszzone gezählt. Bei La Plata: 2.

Zerstören oder Angreifen?

Fußball ist die ewige taktische Sinnsuche: zwischen Sturm und Rückzug, schönem und zielführenden Spiel, zwischen Gewinnen-wollen und Den-Gegner-am-Gewinnen-hindern. Im Finale der Champions League prallten neulich Welten aufeinander: Inter Mailand mit militanter Defensive und Turbokontern - gegen die kleinteilige Spielgestaltung des FC Bayern. "Zerstören gegen angreifen", spitzte Bayern-Trainer Louis van Gaal zu. Der Schwarz-weiß-Kontrast vermittelte jedoch ein falsches Bild. Inter zeigte perfekte Pressingschule und Reorganisation nach Ballverlust, kein plumpes Mauern und Bälle-Vorbolzen eines Unterlegenen. Und auch kraftvolles Kontern sieht 2010 ästhetisch aus: Wenn Attacken von Haustür zu Haustür in Sekunden ablaufen, wenn im Moment des Ballgewinns ein Rudel sprintender Spieler ausschwärmt.

Moderner Catenaccio hat den Charme des Einfachen, Effizienten - Passketten sind komplexer, störanfälliger. "Verteidigen ist leichter", klagte van Gaal, während Kollege José Mourinho Inter mit der Organisationsdichte einer Pinguinkolonie hinten aufstellte. Verbaute Räume und gezieltes Entwaffnen des Gegners sind banale, wirksame Mittel - und eine Glaubensfrage. Bundestrainer Löw sagt, er reagiere ungern auf den Gegner. Er will "das eigene Spiel durchbringen".

Jogi van Mourinho - die Mischkultur

Generell sind Spielstile nichts Starres, die Grenzen oft fließend. Wer etwa gut verteidigt, erlangt automatisch auch viel Ballbesitz. Löw klingt beim Erläutern seiner Spielidee mal wie van Gaal: "Wir wollen dominant Fußball spielen, nicht Fußball verwalten." Mal wie Mourinho: "Hinten gut stehen! Bei Ballgewinn schnell in die Spitze spielen! Bei Ballverlust sofort zurück in die Ordnung finden!" Löw hat sein Team zu einer Umschaltmannschaft erzogen, die zügig spielt, aber nicht atemlos anrennt. Aus einem kompakten 4-5-1 startet die DFB-Elf vertikale Überfälle. Ihr Stil ist weder defensiv noch Ballkreiseln à la FC Bayern. Deutschland 2010 steht für eine edle, spielwitzige Form von Gegenstoß-Fußball. Gute Techniker und Flügelfeger geben den Tempoangriffen ein lebhaftes, ja hübsches Gesicht, auch Dribblings und Kurzpässe gelingen, weil immer mehr zeitgemäß ausgebildete Talente der Internatsjahrgänge mitspielen. Löw lässt sie von der Leine. Er sagt: "Defensive gewinnt heute kein Turnier."

Favoriten mit pragmatischen Rezepten

Erfolg hat nur, wer über einen gemischten Werkzeugkasten verfügt, wer Taktik und Rhythmus variieren kann. Zerstören und ritterlicher Kampf allein reicht nicht mehr zur Welteroberung, auch Feinkostfußball ohne System scheitert. Eine seriöse Gruppenordnung ist die Basis für Intuition und Wagemut von Einzeldarstellern. Beispiel: Franck Ribéry. Im Durcheinander Frankreichs tat er sich zuletzt schwerer als im stabilen Milieu des FC Bayern.

Wetterbericht für Südafrika

Afrikaner sind Außenseiter, trotz Professionalisierung und des Heimvorteils. Teams wie die Elfenbeinküste und Kamerun werden auch dieser WM Charmetupfen geben, doch ein Weltmeister aus Afrika wäre sensationell, zumal ein Held wie Essien ausfällt und Drogbas Einsatz gefährdet ist. Am schönsten spielt wohl Spanien, kein Team streichelt die Kugel sanfter, erobert Bälle gieriger zurück. Wegen des Leistungsgefälles wird man in der Vorrunde Abwehrbollwerke aus Notwehr sehen - und defensive Ansätze auf hohem Niveau. Denn auch Favoriten treten 2010 mit pragmatischen Rezepten an.

Brasilien rückte mit Trainer Dunga von brotloser Kunst ab, steht hinten wie eine Wand, kontert mit Wonne. Argentinien hat zwar famose Stürmer (wie den WM-König in spe, Messi), spielte aber unter Maradona zuletzt trotzdem rational; ein Tor über 25 Stationen wäre diesmal überraschend. Die Italiener sind notorische Verteidiger, jedoch überaltert und hinten porös. England wird von einem Italiener gecoacht (Capello). Und auch der ewige, manisch-offensive Geheimtipp Holland will defensiv sorgfältiger vorgehen. Ins Kreuz ihrer Angreifer stellt die Elftal im Mittelfeld erstmals zwei kantige Abräumer: van Bommel und de Jong.

Vielseitig, jung, fit

Eine solche Doppel- oder gar Triplesechs im wichtigsten Planquadrat, der Feldmitte, ist ein gemeinsamer Nenner fast aller WM-Teams. Wasserträger alter Schule gibt es kaum noch, in Mode sind dynamische Allrounder (DFB: Khedira, Schweinsteiger). In der Angriffszone machen sich reinrassige Kopfballschränke und Knipser rar, der moderne Angreifer ist vielseitig geschult, gerne jung und topfit - Prototyp: Thomas Müller. Die WM 2010 könnte ein Turnier der Jugend werden. In Südafrikas Winter wird Tempofußball dominieren, die Höhenunterschiede der Spielorte fordern die Physis. Sportler mit guten Brennwerten und Laufleistungen sind im Vorteil.

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