WM-Tagebuch "Blog do Brasil":Brasiliens Unwort des Jahres

(FILE) A Look Back At The Biggest Sports Upsets

Der Ärger über das Debakel gegen Deutschland ist noch nicht ganz verflogen in Braslien. Doch das Leben geht weiter.

(Foto: Laurence Griffiths/Getty Images)

Die Sieben ist eine biblische Zahl und genießt in Brasilien einen guten Ruf. Doch das ist nach dem Halbfinal-Debakel gegen Deutschland vorbei. Was SZ-Reporter bei der WM erleben.

Von Thomas Hummel, Belo Horizonte

Am Tag, als die Zeitungen mit schwarzen Seiten ihre Sportteile eröffneten, als einem überall in Brasilien die Worte "vexame histórico" (historische Blamage) und "humilhado" (gedemütigt) entgegenschrien, da kreischten im Parque municipal die Kinder. Wen interessieren schon sieben Gegentore, wenn eine Fahrt im Minhocão lockt, dem großen Regenwurm?

Minhocão ist ein Fahrgeschäft gleich gegenüber dem kleinen See mit den Booten. Es ist eine Art Zug, der aussieht wie ein Regenwurm, statt einer Lok hat es einen riesigen Kopf. Der Regenwurm lacht und verfügt sogar über eine Zahnlücke. Ein Kind von vielleicht fünf Jahren greift hinein in die Lücke, quietscht dabei vor Freude und zeigt das eigene, unvollständige Gebiss. Die Mutter will fotografieren. Vielleicht wird das Kind irgendwann seinen Kindern dieses Foto zeigen und sagen: Schaut, so habe ich die höchste Niederlage unserer Fußballer in der Geschichte unseres Landes verarbeitet. So schlimm war es gar nicht.

"Das Leben geht weiter", sagte Luiz Felipe Scolari, der Trainer. Auch wenn ihm diese schludrig dahingesagten Sätze nun viele übelnehmen im Land - im Park von Belo Horizonte passiert genau das: Das Leben geht weiter. Es gibt hier ja nicht nur den Minhocão. Sondern auch ein "Carrossel", eine "Roda gigante" (Riesenrad) und eine "Pista de Choque" (Autoscooter).

All das ist mindestens sieben Nummern kleiner als auf dem Münchner Oktoberfest. Aber wen kümmert das schon? Dafür muss niemand anstehen und es gibt keine italienischen Bierleichen. Nur ein paar Menschen mit weißen und rot-schwarzen Trikots, die so aussehen, als hätten sie die sieben Tore mit mindestens sieben Caipirinha gefeiert. Sie lutschen an einem Eis, vermutlich zur Abkühlung.

In Brasilien ist nach dem 1:7 im Estádio Mineirão am nächsten Tag tatsächlich die Sonne aufgegangen. Am übernächsten auch. Darunter hat sich das Land aber doch ein bisschen verändert. Die zahllosen Geschäfte mit den gelb-grünen Hemden, den Perücken und Lärminstrumenten aus Plastik eröffneten mit komplett neuen Preisen. Sieben Tore machten aus ihren wertvollen Produkten fast Wegwerfartikel. Noch versuchen die meisten, den Schaden zu begrenzen, bieten zehn, 20 oder 30 Prozent Rabatt an. Die Reaktion der Menschen lässt ahnen: Das wird nicht reichen.

Die Fernsehplaner zogen just Plan B aus der Schublade. Plötzlich ist die ganze schöne Werbung mit Brasiliens Fußballern verschwunden. Auch das wunderbare Lied "Mostra tua força Brasil" kommt nicht mehr, zum Verdruss aller Brasilien-Touristen, die damit seit vier Wochen glücklich eingeschlafen sind.

Leicht in Panik geraten ist Präsidentin Dilma Rousseff. Sie will im Oktober eine Wahl gewinnen und fürchtet, dass sich der Zorn nun gegen sie richten wird. Sie stand zwar gar nicht auf dem Platz, doch das scheint keine Rolle zu spielen. "Als Fan teile ich das Leid aller Fans", sagte sie in einem eilig einberufenen Interview, und rief dazu auf: "Eine Niederlage zu bewältigen, ist das Merkmal einer großen Nationalmannschaft und einer großartigen Nation."

Die großartige Nation trifft sich zum Beispiel in der Avenida Álvares Cabral, oberhalb des Parks von Belo Horizonte, in einer Kneipe mit frisch gepressten Säften. Einen halben Liter morango, laranja, melão (Erdbeere, Orange, Melone) für zwei Euro. "Sind Sie aus Deutschland?" Leider nicht zu verbergen. Alle gratulieren, lachen, klopfen auf Schultern.

Doch die Brasilianer sind in der Überzahl, und so reden bald alle nur noch von ihren, nun ja, Fußballern. In jedem Satz kommt das Wort "sete" vor, sieben. "Sedschi", wie sie hier sagen. "SEDSCHI!" rufen sie und reißen dabei die Augen auf. Sedschi ist eigentlich eine biblische Zahl und genießt in Brasilien einen guten Ruf. Vorbei. Sollte es im Land eine Gesellschaft für brasilianische Sprache geben, sie muss das Unwort des Jahres 2014 nicht mehr suchen.

Für die Kinder vom Park bedeutet das eigentlich nur: Sie sollten aufpassen, demnächst nicht ihren siebten Geburtstag feiern zu müssen. "SEDSCHI!" kommt einfach nicht mehr gut an.

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