WM-Qualifikation: Thomas Hitzlsperger:Lästige Hirtenpflichten

Das Kapitänsamt beim VfB Stuttgart belastet Nationalspieler Hitzlsperger, der gegen Russland auf seinen 50. Einsatz im DFB-Dress hofft.

Philipp Selldorf

Das Amt des Kapitäns ist im Fußball ein Ehrenamt, für das keine Aufwandsentschädigung gezahlt wird, obwohl es eine Menge Aufwand verursacht. Vor Jahren hat Lothar Matthäus einmal erzählt, wie froh er sei, dass er nicht länger Kapitän der Nationalelf sein müsse: Weil er sich nun nicht mehr die Geburtstagstermine der Mitspieler, ihrer Ehefrauen und Kleinkinder zu merken brauche, weil er keine Geschenke beschaffen und Tröstungen leisten müsse, weil er mit all solchen Hirtenpflichten nichts mehr am Hut habe. So hat er es berichtet - in Wahrheit aber hat Matthäus den Verlust seiner Würde schwer bedauert.

WM-Qualifikation: Thomas Hitzlsperger: Stuttgarter Kapitän mit "mentalen Problemen": Thomas Hitzlsperger (r.).

Stuttgarter Kapitän mit "mentalen Problemen": Thomas Hitzlsperger (r.).

(Foto: Foto: Getty)

Thomas Hitzlsperger, 27, ist seit diesem Sommer Kapitän beim VfB Stuttgart. In gewisser Weise war die Beförderung ein logischer Karrieresprung für ihn, Ausdruck seiner systematisch und mit enormem Fleiß fortentwickelten Fußballer-Laufbahn, die am Samstag ein ursprünglich von niemandem für möglich gehaltenes Jubiläum erfahren könnte: In Moskau steht Hitzlspergers 50. Länderspieleinsatz an, wobei er sich selbst nicht sicher ist, ob er wirklich mitspielen darf, denn sein natürlicher Konkurrent Simon Rolfes scheint derzeit die bessere Aussicht auf den Platz neben Michael Ballack im defensiven Mittelfeld zu haben.

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Hitzlsperger hat bisher alle acht WM-Qualifikationsspiele mitgemacht, aber in diesem zugespitzten Duell um den Startplatz in Südafrika wird er womöglich fehlen, was außer mit der ausgewachsenen Formkrise auch mit seinem Ehrenamt zu tun hat. Denn damit wird er zurzeit nicht glücklich. Erstens ist es ihm zur Last geraten, und zweitens wird es ihm zur Last gelegt. Zwar schafft es Hitzlsperger problemlos, sich die Geburtstage seiner Mitspieler zu merken, doch es gelingt ihm nicht, die Erwartungen des Publikums zu befriedigen.

Dabei weiß er ja, was nach klassischem Verständnis von dem Kapitän einer Mannschaft erwartet wird, die so knietief durch die Krise watet wie der VfB in diesen Wochen, er zählt selbst die Kriterien auf: "Ärmel hochkrempeln, Gras fressen, Gegner umhauen." Doch diesen ewigen deutschen Dreisatz des vorweg marschierenden Führungsspielers hält Hitzlsperger für eine Auffassung von Vorgestern: "Der Fußball hat sich verändert", sagt er, "ich will, dass jeder für sich begreift, dass seine Position die wichtigste ist. Jeder, ob jung oder alt, muss ein Führungsspieler sein." Dieses demokratische Prinzip sieht er nur durch eine einzige Autorität aufgehoben: "Der einzige Führungsspieler und der eigentliche Kapitän, das ist der Trainer", befindet Hitzlsperger.

Bundestrainer Joachim Löw meint, dass sein geschätzter, manchmal allerdings übereifriger Schüler "noch seinen Weg sucht" bei der Bewältigung des gewichtigen Ehrenamtes, er spricht darüber hinaus von "Problemen mentaler Art", was Hitzlsperger nicht unbedingt für den Einsatz gegen Russland prädestiniert. Auch ist es womöglich kein reines Kompliment, wenn Stuttgarts Manager Horst Heldt feststellt, dass Hitzlsperger dank seiner Fürsorglichkeit "im Grunde ein hervorragender Kapitän" sei, denn darauf folgt untrennbar verbunden: "Aber er ist einer, der an sich selbst zuletzt denkt."

In der zähen VfB-Krise hat der Manager Zeit genug für Beobachtungen gehabt, und eine davon lautet, dass der Kapitän die Meinungen spaltet: "Thomas wird leider Gottes immer ein Reizthema sein", sagt Heldt und verweist auf ein Beispiel: Als in dieser Woche Trainer Markus Babbel die Prominenten in seinem Team gerügt hat ("jetzt sind vor allem die Nationalspieler gefragt"), schlussfolgerten viele Leute prompt, dass er damit einzig und allein Hitzlsperger gemeint habe. Dieser Irrtum sei typisch, findet Heldt: "Dabei hat der Trainer bewusst den Plural verwendet."

Hitzlsperger will sich jetzt mehr zur Wehr setzen. In Stuttgart hat er Journalisten zur Rede gestellt, er beschwert sich über das "Stammtischgebrüll" im Publikum, und er sagt: "Ich lasse es nicht zu, dass ich ständig auf diese Weise kritisiert und auch diffamiert werde." Neue Töne sind das für ihn. Aber er ist dann auch wieder ganz der Alte, wenn er diese ungute Phase als "tolle Erfahrung" begrüßt: "Ich bin froh, sie zu machen, es ist interessant und eine große Herausforderung", sagt er und meint es womöglich sogar ernst. Seine Rolle als Kapitän muss er dennoch erst definieren. Babbel hat ihm in Erinnerung an gute alte Zeiten beim FC Bayern das Beispiel von Stefan Effenberg angepriesen, Hitzlsperger reagiert darauf aber eher reserviert.

Seine neue Erfahrung als umstrittener Mannschaftsführer hat aber noch einen überraschenden Aspekt entfaltet. Hitzlsperger wirft inzwischen einen anderen Blick auf seinen Nationalteamkollegen Michael Ballack, mit dem er bisher außer dem DFB-Trikot nicht viel gemeinsam hatte. "Die Schwierigkeiten, die er hier als Kapitän hatte, die kann ich jetzt besser verstehen. Er wird für einen Sieg, aber auch für die Niederlage verantwortlich gemacht", sagt Hitzlsperger, und auf einmal steht er nun fast bewundernd vor Ballacks Bild: "Er muss viel aushalten im Verein und in der Nationalelf - und er ist keiner, der sich versteckt vor der Rolle des Führungsspielers." Vielleicht sucht er einfach mal das vertraute Gespräch: Unter Kapitänen.

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