WM 2010: Presseschau:Henry und das Handspiel

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Die Presseschau "Indirekter Freistoss" widmet sich heute den unterschiedlichen Deutungen von Südafrikas Auftaktremis, einem brisanten Detail bei Frankreichs 0:0 und dem Konzernchef Blatter.

Indirekter Freistoss ist die Presseschau für den kritischen Fußballfreund. Fast täglich sammelt, zitiert und kommentiert der Indirekte Freistoss die schönsten und wichtigsten Textausschnitte und Meinungen aus der deutschen, während der WM auch aus der internationalen Presse. Täglich auf sueddeutsche.de und www.indirekter-freistoss.de.

Thierry Henry. (Foto: AFP)

Christian Kamp (FAZ) sah im Unentschieden der Südafrikaner im Eröffnungsspiel gegen Mexiko einen großen afrikanischen Moment "am Ende leicht getrübt". "Das 1:1 war ein gerechtes Ergebnis in einem Spiel auf nur teilweise gutem Niveau." Dabei habe es in der ersten Halbzeit nach einer "Vorführung für die nervös wirkenden Südafrikaner, die mit so viel Zuversicht und der Unterstützung des ganzes Landes in Turnier gegangen waren", ausgesehen. "Hätten die mutigen Mexikaner nur eine ihre vielen Chancen genutzt, wären sie mit einiger Gewissheit als Sieger vom Platz gegangen. Nach der Pause aber zeigte auch Bafana Bafana, dass das Team in den vergangenen Monaten große Fortschritte gemacht hat." Das Erfolgsrezept der Heimelf sei die Fitness. "Und sie hatte tatsächlich noch etwas zuzulegen, das war schon nach wenigen Augenblicken der zweiten Halbzeit zu sehen. Die Belohnung folgte schnell. Dikgacoi spielte Tshabalala wunderbar frei, und der Mann von den Kaizer Chiefs wuchtete den Ball mit links in den Winkel - ein Traumtor."

Trotz des für viele überraschenden Punktgewinns berichtet Boris Herrmann (Frankfurter Rundschau) von einem vermasselten Auftakt. Die lauten Vuvuzelas seien für die Elf von Trainer Carlos Alberto Parreira lähmend gewesen. "Es war bestimmt nett gemeint von den Südafrikanern. Sie wollten ihren Helden gleich vom ersten Anstoß weg Mut und Kraft zublasen. Leider erreichten sie damit das Gegenteil." Nach dem ersten Tor des Turniers durch Siphiwe Tshabalala, "in guter Tradition Philipp Lahms", war eine Überraschung zum Greifen nah. "Es war aber auch eine schöne Geschichte, dass Südafrika überhaupt in Führung gegangen ist. Von jenen 25 Minuten (55. bis 80.), in denen die Sensation in der Killerbienenluft lag, wird dieses Turnier noch ein paar Tage zehren können. Es waren die Minuten, in denen ein Fußballzwerg wie ein Koloss anmutete, in denen die Parreiralehre vom schnellen Kurzpassspiel nicht nur die Mexikaner erstaunte." Während Mexikos Trainer Javier Aguirre einen "bitteren Beigeschmack" bei beiden Teams vermutete, war Südafrikas Trainer bei besserer Laune: "Er hatte tiefe Lachfalten in der Backe, er zeigte Zähne, als er vorrechnete, dass man in der Gruppe A mit vier Punkten weiterkommen kann." Viele Chancen auf das Achtelfinale räumt der Autor den Südafrikanern dennoch nicht ein. "Sie sind nach einem Spiel noch im Turnier. Das ist noch nicht allzu viel. Aber das ist schon einmal mehr, als man diesen Südafrikanern vor einigen Monaten zugetraut hätte."

Als gewonnenes Unentschieden wertet Dominik Wehgartner (taz) das Auftaktremis. Nach dem Gegentor mussten die dominanten Mexikaner zittern. "Der Schwung der ersten Halbzeit war verflogen, Mexiko verließ nach und nach die Kraft, Südafrika zeigte jetzt die klaren Aktionen und entwickelte Torgefahr." Doch die Schwächen der Gastgeber haben Bafana Bafana den Sieg gekostet. "Dass die Mannschaft durch Rafael Márquez doch noch zum Ausgleich kam, lag an einer Unachtsamkeit der südafrikanischen Abwehr, die eine Flanke schlicht ignorierte und Márquez in aller Ruhe aus fünf Metern einschießen ließ."

André Görke kritisiert im Tagesspiegel die Organisation der Weltmeisterschaft: "Auf den Straßen von Johannesburg gab es ein Verkehrschaos, das in diesem Ausmaß noch nicht einmal die stressresistenten Taxi-Fahrer von Soweto erlebt hatten. Die einzige Autobahn raus in die Vorstadt - wo 'Soccer City' neben eine staubige Schutthalde gebaut wurde - war überlastet, mehr als 20 000 Fans kamen zu spät." Zum Glück seien viele Plätze nur bei der Eröffnungsfeier leer geblieben. "Von den Gastgebern hatten viele der Zuschauer doch etwas mehr Mut erwartet. Die Mannschaft bereitet sich seit März auf die WM in ihrem Land vor, eingespielt sollte sie sowieso sein: Gegen Mexiko liefen gleich acht Fußballer auf, die sich fast jedes Wochenende in der südafrikanischen Liga treffen. Doch erst nach fast 25 Minuten wurde der Ball das erste Mal aus dem Spiel heraus auf das Tor Mexikos geschossen." Nach dem Führungstreffer verstummten die Vuvuzelas erst, als Rafael Marquez zum Ausgleich traf - "aber nur kurz. Sie wurden lauter, als Stürmer Katlego Mphela in letzter Minute frei vor Mexikos Tor auftauchte - und nur den Pfosten traf. Der Partystimmung nach dem Spiel tat das jedoch keinen Abbruch."

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Als spielerische Tristesse empfand Christian Eichler (FAZ) das 0:0 zwischen Uruguay und Frankreich. "Den Uruguayern reichte physische Präsenz und aufmerksame Abwehrarbeit, um sich einen Punkt zu verdienen. Nicht einmal die Überzahl in den letzten zehn Minuten, nachdem der eingewechselte Nicolas Lodeira sich binnen nur 18 Minuten auf dem Platz zwei Gelbe Karten eingehandelt hatte, konnten die Franzosen zum Siegtor nutzen." Trainer Raymond Domenech steht weiter in der Kritik. "Unter ihm ist das Team in den letzten Jahren in eine spielerische Erstarrung verfallen. Das Überraschungsmoment fiel einem Systemzwang zum Opfer, dem nur einzelne, wie Ribéry, mitunter etwas Lockerung verschaffen konnten." Die Parallele zu 2002, als sich beide Teams ebenfalls in der Gruppenphase trafen, liegt auf der Hand. "Es ist kein gutes Omen, für keines der beiden Teams: Schon 2002 hatten sie sich in der WM-Vorrunde 0:0 getrennt und danach beide in der Vorrunde ausgeschieden. Allzu viele Argumente, warum das diesmal anders sein sollte, haben sie am Freitag nicht geliefert."

Peter Birrer (NZZ) widmet sich vor allem dem schwachen Spiel Uruguays. "Den Franzosen standen also summa summarum nicht weniger als 53 Tore gegenüber. Da hätte ihnen angst und bange werden müssen. Dachte man." Sowohl Forlan als auch sein Partner "Suarez, einer der begehrtesten Stürmer Europas, den Ajax offenbar nur für 40 Millionen Euro aus dem bis 2013 gültigen Vertrag entlassen will, wurden allerdings gegen Frankreich lange nicht gesehen. Überhaupt war das zweite WM-Spiel nichts für die Stürmer."

David Hytner (The Guardian) hat die feine Ironie bemerkt, als Thierry Henry einen Handelfmeter reklamierte, ihn aber nicht bekam. "Das dürfte keinem Irland-Fan im Publikum entgangen sein. Doch trotz des Verlangens, das Team von Trainer Raymond Domenech zu kritisieren, darf man die Franzosen nach einem schwachen Start nicht abschreiben. Schon 2006 stolperten sie durch die Gruppenphase. In der K.o.-Runde legten die Franzosen einen Schalter um und marschierten ins Finale. Domenech, ein äußerst abergläubischer Trainer, hofft also auf ein gutes Omen nach schwachem Auftritt."

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Roland Zorn (FAZ) widmet sich der FIFA und den finanziellen Aspekten der WM. "In einer Pause des Johannesburger Fifa-Kongresses fragte ein Delegierter den Präsidenten des Internationalen Fußball-Verbandes, ob seine Organisation den Mitgliedsverbänden demnächst vielleicht Vorzugsaktien statt Bonuszahlungen anbieten werde. Joseph Blatter musste dabei zwar schmunzeln, tat aber nicht völlig überrascht. Schließlich hatte er die Abgesandten aus 207 der 208 unter dem Dach der Fifa versammelten Fußball-Nationalverbände zuvor mehrmals als 'Shareholders' bezeichnet und den zweiten Teil seiner Rede am Vortag der Eröffnung der Weltmeisterschaft in Südafrika wie eine Konzernbilanz präsentiert." FIFA-Chef Blatter klopfe sich selbst ausgiebig auf die Schulter. "Manchmal erweckt der Sportpolitiker aus dem Oberwallis kaum den Eindruck, als habe seine Mission noch etwas mit dem Fußball zu tun. Eher glaubt man, einem Kandidaten für den Friedensnobelpreis zu lauschen, wenn der Schweizer zu seinen oft pathetischen Reden anhebt. Andererseits kann er darauf verweisen, dass 73 Prozent aller Fifa-Einnahmen umstandslos an den Fußball, also zur Ausrichtung der internationalen Wettbewerbe unter der Regie des Weltverbandes und für dessen Hilfswerke wie das Entwicklungsprogramm 'Football for Hope' zurückfließen." Blatter lässt keinen Zweifel daran, wem die Fifa den explosionsartigen Aufstieg vom verschuldeten Verband zum Milliarden-Unternehmen zu verdanken hat: "So chartert er bisweilen ein luxuriös ausgestattetes Präsidentenflugzeug für sich und seine engste Entourage, so residiert er im Home of Fifa auf dem Zürichberg, also in der besten Wohnlage der Stadt. Ein Anwesen, das die Kleinigkeit von 145 Millionen Euro gekostet hat und 2007, drei Jahre nach dem hundertsten Geburtstag der Fédération Internationale de Football Association, fertiggestellt wurde."

Nach Raubüberfällen auf Journalisten blickt Jens Weinreich (Spiegel Online) auf die Sicherheitslage bei der WM. "Natürlich haben die Südafrikaner für dieses Fußballfest ein riesiges Sicherheitsaufgebot bestellt, das kürzlich aufgestockt wurde: 46.000 Polizisten sind im WM-Einsatz. Allerdings wurden viele von ihnen kaum auf diesen Einsatz vorbereitet. Polizisten, die nicht gut lesen und schreiben können, sind in Südafrika keine Seltenheit. Über zehn Prozent der Beamten hat keinen Führerschein. Oft sind die Beamten schlecht ausgestattet, ihre kriminellen Gegner haben die besseren Waffen und die schnelleren Autos. Ein einfacher Polizist verdient anfangs gerade mal etwa 4500 Rand im Monat, umgerechnet 400 Euro. Auch ein Grund dafür, warum manche Beamte bestechlich sind."

Der Kritik an den Vuvuzelas widmet sich Daniel Theweleit (Spiegel Online). "Das Phänomen, dass eine Mannschaft besser wird, dass das Publikum mitgeht und so in einer Art Ping-Pong Effekt dramaturgische Wendepunkte entstehen, das lässt die Vuvuzela nicht zu." Obwohl die Tröten auf vielen Fanmeilen bereits verbannt wurden, müssen sich die Zuschauer wohl bis zum Finale an den monotonen Bienenschwarm gewöhnen. "Jede Kritik an der Trompete wird am Kap sofort als europäischer Angriff auf die eigene Fußball-Kultur empfunden. Im Extremfall gelten Gegner des Geräts als verkappte Rassisten, die kein Verständnis für Afrikas kulturelle Eigenart hätten. Dabei ist die Vuvuzela, die von den Deutschen scherzhaft als "Uwe Seelers" bezeichnet wird, keineswegs ein Instrument mit langer Tradition. Weder in Form noch Lautstärke hat die Vuvuzela viel mit dem traditionellen Kudu-Horn zu tun, es ist daher absurd, eine vor ein paar Jahren aus Amerika importierte und erst seit kurzem industriell hergestellte Plastiktröte zum afrikanischen Kulturgut zu verklären."

Presseschau zusammengestellt von Matthias Nedoklan.

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