WM 2010: Presseschau:Deutschlands kreative Maschinen

Die Presseschau "Indirekter Freistoss" widmet sich heute dem Staunen der internationalen Kommentatoren über das deutsche 4:0 gegen Australien und einer Petition gegen die Vuvuzelas.

Indirekter Freistoss ist die Presseschau für den kritischen Fußballfreund. Fast täglich sammelt, zitiert und kommentiert der Indirekte Freistoss die schönsten und wichtigsten Textausschnitte und Meinungen aus der deutschen, während der WM auch aus der internationalen Presse. Täglich auf sueddeutsche.de und www.indirekter-freistoss.de.

"Ist eine deutsche Nationalmannschaft jemals spielerisch überzeugender in ein Turnier gestartet?", fragt Stefan Osterhaus (NZZ). Nach anfänglichen Problemen hatte Deutschland das Spiel spätestens nach dem Führungstor von Podolski im Griff. "Die Deutschen zeigten nun fabelhaften Fußball, Chance um Chance spielten sie heraus. Das von Löw erdachte System mit nur einer einzigen nominellen Spitze verwandelte sich regelmäßig in ein 4:3:3 niederländischer Prägung, und gesellte sich Özil zu den Angreifern, verfügte die Mannschaft über vier Stürmer." Nach dem Platzverweis für Cahill und den Treffern durch Müller und Cacau habe Deutschland das Resultat nur noch verwaltet, "auch im Wissen darum, dass es gegen Serbien am Freitag in Port Elizabeth ein Match von hoher Brisanz zu bestreiten hat: Für Serbien ist nach der Auftaktniederlage gegen Ghana ein Sieg Pflicht. Den Deutschen winkt ihrerseits bei einem Erfolg der vorzeitige Einzug in den Achtelfinal."

Michael Cockerill (Sydney Morning Herald) hat ebenfalls eine sehr einseitige Partie gesehen: "Eine deutsche Mannschaft demütigte eine australische Elf, die sich auf dem Weg nach unten befindet. Zwei Tore Vorsprung nach 25 Minuten, und das mit angezogener Handbremse. Es hatte den Anschein eines Trainingsspiels, nicht den einer WM-Partie. Zu schnell für die Socceroos, zu viel Bewegung, zu groß, zu stark, zu erfahren - einfach zu gut. (...) Unmöglich, die deutsche Qualität und die Energie ihres kreativen Spiels nicht zu bewundern."

Jesús Alcaide (El Mundo) geht noch weiter und sieht Mesut Özil als Sinnbild einer neuen deutschen Mannschaft, die an Heldentaten vergangener Tage anknknüpfen könnte: "Er ist nicht blond, er hat keine blauen Augen und er ist kein Muskelberg. Aber er ist das Symbol eines neuen deutschen Fußballs. Einer multikulturellen Nationalmannschaft, die den Ball laufen lässt, etwas kreiert, die passt und kombiniert, die sich selbst und anderen Freude bereitet." Am Ende zieht Alcaide den Vergleich mit den Europameistern von 1972: "Löw hat einem Haufen Grünschnäbel das Steuer überlassen, die im Begriff sind, mit einer fast 40-jährigen Geschichte des deutschen Fußballs zu brechen, der, egal ob erfolgreich oder nicht, stets einem einfachen Puzzle glich, das im Wesentlichen aus drei Teilen bestand: hohen Bällen, vielen Muskeln und technischen Unzulänglichkeiten. Jetzt ist alles anders und die Deutschen könnten wieder an die Leistungen der Mannschaft anknüpfen, die 1972 mit Ballkünstlern wie Overath oder Netzer Europameister wurde und dabei den schönsten deutschen Fußball aller Zeiten spielte."

Daniel Taylor (The Guardian) setzt das DFB-Team nach dem sechsten Auftaktsieg bei einer WM in Folge auf die Liste der Titelfavoriten. "Deutschland wurde oft als effizient oder stur bezeichnet. Sie verdienen mittlerweile anderes Lob. Es wäre eine gute Sache für das ganze Turnier, wenn andere Länder sich an dem Angriffspiel der Deutschen orientieren würden." Nach seinem 11. WM-Tor sei das ehemalige "Sorgenkind" Miroslav Klose in Schlagdistanz zu Ronaldos Rekord von 15 Endrundentreffern. "Doch nach dem 49. Länderspieltor Kloses ist es weiter fraglich, warum der Stürmer international weiterhin nur wenig Beachtung findet. Seine Trefferquote lässt an seiner Klasse eigentlich keinen Zweifel."

Auch LeMonde hebt die zentrale Rolle Mesut Özils hervor: "Die Australier gingen mit viel Respekt auf den Platz, aber im Angesicht der deutschen Spielwut gaben sie schnell auf. Mit einem großartigen Özil als Dirigent zeigte die Truppe von Joachim Löw von Beginn an ihre Muskeln. (...) Abgesehen vom Ergebnis und der Art wie es zustande kam, hat Joachim Löw sicherlich die reife Vorstellung seines jungen Teams und seiner neuen Kanone Mesut Özil gefallen. Mit zwanzig Jahren setzte sich der Spielmacher von Werder Bremen als Versprechen für die Zukunft durch und könnte Michale Ballack schon sehr bald vergessen machen."

Muss sich Löw fürchten?

Ghanas Auftakterfolg beim 1:0 gegen Serbien wertet Roland Zorn (FAZ) als Sieg für den ganzen Kontinent. Der Elfmetertreffer durch Asamoah Gyan brachte Ghana den Sieg im Auftaktspiel der Gruppe D. "In der gezeigten Form dürfte freilich keine der beiden Mannschaften für große Sorgen beim deutschen Team sorgen." Besonders die Serben, vorher als Geheimfavorit auf den Titel gehandelt, seien blass geblieben und hätten das Tempo verschleppt, anstelle die technische Qualität der Einzelspieler zur Geltung zu bringen.

Markus Völker (taz) blickt besonders auf Kevin-Prince Boateng. "Am Nachmittag machte der ehemalige deutsche Jugendnationalspieler sein zweites Länderspiel für Ghana. Er trat auf, als sei er der Doyen der ghanischen Ballkünstler. Auch aufgrund seines nassforschen Auftritts im defensiven Mittelfeld schlug Ghana im Loftus-Versfeld-Stadion von Pretoria die Serben mit 1:0." Eben der Spieler, der mit seinem Foul an Michael Ballack Deutschland in eine gefühlte Katastrophe brachte, könne auch sportlich Probleme bereiten, anders als Serbiens "neckische Freistoßvariante mit Rudelbildung beim Eckball".

Grobe Torwartschnitzer, II

Die Partie zwischen Algerien und Slowenien bereitete Simon Burnton (The Guardian) nur wenig Freude. Nach dem Tor von Koren, ermöglicht durch einen katastrophalen Schnitzer von Torwart Chaouchi, ist man im Mutterland des Fußballs zumindest froh, nicht das einzige Team zu sein, das für seinen Torhüter belächelt wird. Nach dem Ende einer zähen Partie braucht Burnton erst einmal Abstand vom Fußball: "Slowenen, Journalisten und Fußballfans weltweit freuen sich über den Schlusspfiff. Jetzt kann jeder irgendwo hin gehen und endlich was Interessantes tun. Ich werde die Erinnerung an die letzten zwei Stunden löschen, indem ich meinen Kopf gegen die Wand schlage."

Eine starke Leistung im Tor zeigte hingegen der US-Amerikaner Tim Howard, der sich im Spiel gegen die Engländer noch nicht einmal durch eine Verletzung aus dem Konzept bringen ließ. Jeré Longmann (New York Times) weiß um die Bedeutung des Keepers vom FC Everton: "Nach einer Kortison-Spritze in der Halbzeit hielt der Torhüter weiter so herausragend, dass er sogar zum Mann des Spiels ernannt wurde. Ein Ausfall würde die Chancen der USA aufs Achtelfinale empfindlich schmälern."

Die ewig nervenden Vuvuzelas

Felix Helbig (FR) beschäftigt sich mit den Vuvuzelas und den strapazierten Nerven der Fernsehzuschauer. Die Fernsehanstalten sind machtlos, bei den großen Fanmeilen in Deutschland sind Vuvuzelas mittlerweile verboten, "weil ihr Klang schlicht nicht mit deutschen Lärmschutzrichtlinien vereinbar ist. Es ist eine Richtlinie, die ausnahmsweise auf beinahe ungeteilte Zustimmung der Fußballanhänger trifft: Binnen weniger Stunden unterschrieben am Wochenende 200.000 Fans im Internet eine Petition auf vuvuzela.org, die ein Verbot der Tröte fordert. Die Seite brach am Sonntag unter der Last zusammen." In Südafrikas Metropole Kapstadt greifen die Zuschauer derweil zu Ohrstöpseln, die scheinbar reißenden Absatz finden: "Sämtliche Apotheken der Stadt meldeten am Samstag: ausverkauft."

Im Interview mit Peter Unfried (taz) äußert sich Grünen-Politiker Robert Habeck über den deutschen Patriotismus. Zum Glück sei der Fußballpatriotismus ein Ausdruck friedlicher Feierstimmung, politisch nicht aufgeladen. "Public Viewing, Dosenbier und Eis - was soll das für ein Patriotismus sein? Man kann ihn mögen oder nicht, aber es ist keiner, der sich mit einer politischen Botschaft verbindet." Laut Habeck hat Jürgen Klinsmann mit seinem Amtsantritt 2006 nicht nur den Fußball reformiert. "Das war jenseits des alten DFB-Schmodders und des Bern-Mythos, nach dem eine Nation im Fußball zu sich selbst findet. Damit war es obsolet, dass die Nationalmannschaft für die deutsche Identität als völkische Gemeinschaft steht. Die Bevölkerung scheint mir viel weiter, libertärer, gleichgültiger als das politische Bewusstsein darüber."

Presseschau zusammengestellt von Matthias Nedoklan. Aus dem Spanischen übersetzt von Pepe Fernandez und Christian Schwöbel, aus dem Französischen von Jonathan Lütticken.

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