Italien-Schweden:Pippi gegen Pinocchio

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Vor den beiden entscheidenden Qualifikationsspielen gegen Schweden bleibt Italien betont cool. Trainer Gian Piero Ventura setzt auf seine Routiniers in der Abwehr.

Von Birgit Schönau, Rom

Italiener haben eigentlich keine Angst. Mit Angst wird man nicht alt, und hier leben die ältesten Menschen Europas. Mit Angst wird man nicht kreativ, und hier ist das Mutterland von Kunst, Kultur, Küche. Mit Angst lässt man sich gegen alles versichern, vom Wespennest bis zum Brillenbruch. Hier klappern deutsche Versicherungsvertreter gerade vergeblich die Erdbebengebiete ab. Das nächste Beben kommt bestimmt, sagen sie. Kann schon sein, wird ihnen entgegnet. Aber wieso soll ausgerechnet mein Haus einstürzen? Kreislauf, Burnout, Insektensterben, Staatsverschuldung: alles kein Thema. Die Welt wird sich schon weiter drehen, oder? Auch nach dem Freitagabend, wenn in Stockholm das Hinspiel Schweden gegen Italien in den Playoffs für die WM 2018 angepfiffen wird. Das Rückspiel steigt am Montag im Meazza-Stadion zu Mailand.

Gegen das Magengrimmen bietet Gian Piero Ventura den früheren Dortmunder Ciro Immobile auf

Kalt wird's, hart wird's, kein Spaziergang wird's. Aber Angst? "Ich werde meine sechste WM spielen", sagt Gigi Buffon, der Kapitän. "Wir sind Italien, und rausfliegen ist für uns keine Option", sagt Leonardo Bonucci, der Verteidiger. "Ibra spielt ja zum Glück nicht mehr", sagt sein Kollege Giorgio Chiellini, der sich in Stockholm mit einer frischen Narbe auf der Stirn präsentiert, fünf Stiche über einer Platzwunde nach einem Zweikampf im Ligaspiel. Sieht martialisch aus, und tatsächlich sollen sich ja die Schweden gefälligst fürchten vor der famosen Abwehr der Azzurri. Prima di tutto non prendere ist das Gebot, also die gute, alte Trapattoni-Regel: "Erst mal keinen reinkriegen." In den Playoffs, und das ist eine gute Nachricht, kann man endlich die Schönspiel-Dogmen des modernen Fußballs zur Hölle jagen. "Der Guardiolismus hat unsere Verteidigung kaputt gemacht", schimpft Chiellini. "Heute wollen alle den Ball nach vorn bringen und niemand kann mehr Manndeckung." Außer ihm, Bonucci und Andrea Barzagli, Italiens BBC.

„Wir sind Italien, und rausfliegen ist für uns keine Option“, sagt der Verteidiger Leonardo Bonucci (l.). Sein Trainer Gian Piero Ventura stimmt ihm da natürlich zu. (Foto: Maurizio Degl'Innocenti/AP)

Hässlich wird's, schmutzig wird's, kein Spaß wird's. Auswärts 3-5-2, zu Hause 4-2-4, die Taktikformeln stehen, die Strategie sowieso, sie lautet Augen zu und durch. "Und wenn ich auf dem Platz sterben muss, ich spiele die WM", sagt Alessandro Florenzi aus dem Mittelfeld der AS Roma, was zwar vollkommen unlogisch ist, aber hoffentlich auch nicht ernst gemeint. Simone Zaza wird dagegen aller Voraussicht nach fehlen gegen die Schweden - der groteske Trippelfüßler aus dem verpatzten EM-Viertelfinale gegen Deutschland, der unter Nationaltrainer Gian Piero Ventura eine feste Größe ist, jedoch am Donnerstag das Training abbrechen musste. Das Signal ist aber klar: Wer Zaza aus der Verbannung holt, wenn es um alles oder nichts geht, der fürchtet weder Tod noch Teufel. Der will sagen: "Die Lage ist hoffnungslos, aber noch lange nicht ernst, Leute." Wie beim Derby Pippi Langstrumpf gegen Pinocchio. Wobei die Italiener der Generation von Ventura eher nicht an die aufmüpfige Pippi denken, wenn sie von Schweden träumen. Sondern an die Wuchtbrumme Anita Ekberg und deren Bad im Trevibrunnen. "Wir liebten jene Fülle, die wir selbst nicht hatten", dichtete Mario Sconcerti im Corriere della Sera. Der Star unter den italienischen Sportjournalisten ist 69 Jahre alt, genau wie Ventura. Navigato heißt das Attribut für Männer mit Lebenserfahrung, "weit gesegelt." Mindestens so weit wie diese Wikinger.

Wenn jetzt, nur mal angenommen, die Deutschen in Stockholm auf den letzten Drücker punkten müssten, dann würden sie bibbernd und zagend an das WM-Qualifikationsspiel vom 16. Oktober 2012 denken. Damals führte Deutschland nach einer Stunde 4:0, bis ein gewisser Zlatan Ibrahimovic beschloss, das Spiel zu drehen und Schweden prompt vier Gegentreffer servierte. "Es soll uns eine Lehre für alle Zeiten sein", sagte damals Jogi Löw - und wurde Weltmeister. Für Russland sind die Deutschen längst qualifiziert, Pflicht erfüllt, Hausaufgaben gemacht, das Wort Durchmarsch wird peinlichst vermieden. Jetzt könnte man sich also zurücklehnen und ein wenig an der Angst des alten Angstgegners Italien weiden. Nach der Pflichterfüllung kommt die Schadenfreude. Und nach dem 1:1 gegen Mazedonien der Schwedenfluch für Italien. 1958 hatte Italien bei der WM in Schweden gefehlt. Die letzte EM ohne Italien wurde 1992 in Schweden ausgetragen. Aller schlechten Dinge sind drei, oder? "Seitdem ich nicht mehr spiele", verkündet Ibrahimovic, "wird von Schweden keine Erfüllung höherer Ziele verlangt. Unsere Mannschaft geht also ganz entspannt ins Spiel."

Wie um zu sagen: Ohne Ibra ist es noch schlimmer als mit Ibra. Oder? Die Gazzetta dello Sport hat eine Umfrage durchgeführt. 80 Prozent der Italiener seien überzeugt, dass die Squadra Azzurra zur WM reisen werde. Allerdings: "69 Prozent glauben, wir werden gegen Schweden leiden." Per aspera ad astra also, das übliche, tausendfach aufgeführte Melodram, immerhin wird gegen das nationale Magengrimmen der Neapolitaner Ciro Immobile aufgeboten, ein Mann ganz ohne Melancholie, dafür aber mit 14 Ligatoren an 11 Spieltagen für Lazio. Und wenn's trotzdem schief ginge und die WM ohne Italien stattfände? Ein normales, sportliches Ergebnis, schnell vergessen, meint die Hälfte der Befragten. Die andere Hälfte teilt sich in: schlimme Katastrophe (28 Prozent) und heilsame Katastrophe (19 Prozent). Jeder fünfte Tifoso denkt also, wenn man den Faden weiter spinnt: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Wenn die Azzurri im Falle der WM-Exklusion zu Hause blieben, müssten die Senioren wohl ihre Koffer packen. Ventura, sein 74-Jähriger Verbandsboss Carlo Tavecchio, der 39-Jährige Gianluigi Buffon und die Hintermannschaft BBC, Durchschnittsalter 33, würden tatsächlich in Rente gehen. Alter Schwede!

© SZ vom 10.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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