WM 2018:Nirgendwo in Russland

Die WM findet ohne zahlreiche Nationen und Spieler statt, die vergangene Turniere prägten. Diese Elf, die so niemals zusammenspielen wird, fehlt im kommenden Sommer. Dabei hätte sie die WM um viele Geschichten bereichert.

Kleine Brezeln - Jürgen Klinsmann, Trainer

Zu den Lebensregeln des Jürgen Klinsmann gehört, dass man als Sportler, Mensch und Schwabe "immer über den Tellerrand hinaus schauen muss". Als der inzwischen entlassene Klinsmann 2011 das Amt des US-Coaches übernahm, sah er hinterm Tellerrand zum Beispiel schon die WM 2018, zu der sein Team als Mitfavorit anreisen würde, betreut von einem Trainerstab, der in etwa so viele Einwohner zählen würde wie seine Geburtsstadt Göppingen (56 781). Außer 100 Co-Trainern würden sich auch Yogalehrer, Fußpfleger, Schlaf- sowie Weltraumforscher um die Spieler kümmern, die Spieler würden sieben Sprachen sprechen, das Gitarrenspiel, das Brezelbacken sowie sämtliche Standardtänze beherrschen und "Das Kapital" gelesen haben. Zwar sind die US-Kicker von ihrem Tellerrand längst wieder hinunter ins Nichts geplumpst, aber Klinsmann hat bereits eine neue Vision: Bei der WM 2022 wird das US-Team wieder dabei sein, vor allem dank der Paraden eines Torwarts, der zurzeit noch in der U20 spielt. Sein Name: Jonathan Klinsmann junior. Christof Kneer

Schön und alt - Gianluigi Buffon, Torwart

Italy v Sweden - FIFA 2018 World Cup Qualifier Play-Off: Second Leg

Profis, die man 2018 in Russland vermissen wird: die Italiener Giorgio Chiellini und Gianluigi Buffon, die die Qualifikation verpatzten.

(Foto: NurPhoto via Getty Images)

Nach allem, was zuletzt zu hören war, ist die Austragung der WM in Russland noch nicht vollständig gesichert. Das liegt selbstverständlich nicht an der streng demokratischen Regierungsform des Gastgeberlandes oder an dem von vorbildlicher Transparenz geprägten Umgang mit Dopingtests, sondern an Fragen, für die es keine Antworten gibt, weil sich diese Fragen in der Geschichte der Menschheit bisher noch nie gestellt haben. Darf eine WM überhaupt ausgetragen werden, ohne dass ein einziges azurblaues Italien-Trikot zu sehen ist? Ohne dass jemand die Nationalhymne so inbrünstig singt, dass man ihm dabei die Plomben zählen kann? Ohne dass Reporter 17 Mal pro Spiel vom "Angstgegner der deutschen Mannschaft" raunen? Ohne dass mindestens sieben Spieler schön und alt sind, und ohne dass mindestens einer von ihnen Gianluigi Buffon, Leonardo Bonucci oder wenigstens Giorgio Chiellini heißt? Erst wenn all diese Fragen mit "ja" beantwortet werden, wird die WM stattfinden. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe war das noch nicht abzusehen. Sebastian Fischer

Zu schwach - Sebastian Kurz, Rechtsaußen

Football match Future EU vs EU at Western Balkans Summit  in Vienna

Sebastian Kurz bei einem Einwurf von rechts.

(Foto: Getty Images)

Was wäre das spannend geworden für den jungen Kanzler. Er hätte die Staatschefs kennengelernt, alle, die echten! Wladimir Putin hätte ihm, Sebastian Kurz, sicher gerne verraten, wie man auf wilden Pferden reitet und was man sonst so tun kann für ein autoritäres Image. Und Kurz hätte seinen Österreichern sicher gerne zugejubelt, besonders seinen Lieblingsspielern, Moritz Bauer, dem rechten Verteidiger, und Marcel Sabitzer - auf Rechtsaußen. Doch daraus wird nix. Österreich ist gerade einfach zu schlecht. Sebastian Fischer

Zu hart - Gary Medel, Verteidiger

Keiner weint hingebungsvoller als ein harter Mann. Und Gary Medel ist hart. Also: Nicht hart im Stile von Chuck Norris, der schon zwei Herzinfarkte hinter sich hat; in Medels chilenischer Heimat halten sie Norris daher, relativ gesehen, für ein Weichei. Denn Medel, den sie auch den Pitbull nennen, ist härter. So hart, dass nur ihm reißende Ströme die Wangen hinunterlaufen, als wären seine Augen die Wasserfälle von Iguazú. Im Viertelfinale 2014 gegen Brasilien hatte er sich, nachdem er Rasen und Gegner umgepflügt hatte, im Mineirão von Belo Horizonte wegen einer Verletzung auswechseln lassen müssen; die Bilder seiner Tränen, seines Schluchzens auf der Liege wurden ikonisch. Stürmer Pinilla setzte kurz vor Ende der Verlängerung den Ball an die Latte, Chile verlor im Elfmeterschießen. Ohne Medel. Chile gewann danach zwei Mal die Copa América, kam 2017 ins Finale des Confederation Cups. In der WM-Qualifikation aber scheiterte Chile. An Brasilien, Uruguay, Argentinien, Kolumbien und Peru. Und Medel weinte. Wahrscheinlich weint er immer noch. Javier Caceres

Langer Weg - Huang Zichang, Verteidiger

Er sollte einer von jenen sein, mit denen Großes beginnt. Huang Zichang aus Putian in der Provinz Fujian stand in der Startelf der chinesischen U20-Auswahl, die im November gegen den Regionalligisten TSV Schott Mainz antrat. Zichang und seine Kollegen sollten den Fortschritt des chinesischen Fußballs beschleunigen, sie sollten in Freundschaftsspielen in Deutschland lernen und konkurrenzfähig werden, auf dass eines Tages der Plan des Staatspräsidenten Xi Jinping in Erfüllung gehe: Weltmeister zu werden. Doch nun steht Chinas U20 erst mal für Versagen. Die Freundschaftsspiele scheiterten, grob erklärt, an tibetischen Fahnen und der Sturheit chinesischer Politik. Und auch sportlich war der Eindruck schwach: Chinas Junioren verloren 0:3 gegen Mainz, ohne einen echten Zweikampf zu bestreiten. Sie erinnerten an ihre A-Nationalmannschaft, die in der WM-Qualifikation chancenlos ausschied. Es ist ein langer Weg bis zum Titel. Und es wird ein langer Sommer für alle fußballliebenden Chinesen wie Huang Zichang aus Putian in der Provinz Fujian. Sebastian Fischer

Schleifenverbot - Gareth & Alba Bale, Mittelfeld

EURO 2016 - Round of 16 Wales vs Northern Ireland

Immer gut frisiert: Gareth Bale und Tochter Alba.

(Foto: dpa)

Wie sehr sie wohl gewachsen ist? Wie sehr sie sich verändert hat? Ob sie immer noch Schleifchen im Haar trägt? Die Fragen werden vorerst unbeantwortet bleiben. Die Welt nahm bei der EM 2016 von Alba Violet Notiz, der damals dreijährigen Tochter des Walisers Gareth Bale. Nach Wales' Sieg gegen Nordirland tollten beide in Paris über den Rasen, spielten Fangen. Den Fans war es eine Wonne, den Fußballbürokraten ein Dorn im Auge; sie verboten Kinder im Stadion-Innenraum. Prompt bleibt Wales der WM fern. Javier Caceres

"Chumasteiger" - Alejandro Chumacero, Mittelfeld

Chile v Bolivia: Group A - 2015 Copa America Chile

Bastian Schweinsteiger? Sein Zwilling? Oder Chumacero?

(Foto: LatinContent/Getty Images)

Es gibt Kolumnisten, die bedauern, dass Alejandro Chumacero kein Brasilianer oder Argentinier ist. Sondern "nur" Bolivianer. Denn so werde ihm stets Anerkennung - oder eine WM-Fahrt verwehrt bleiben. Bolivien scheiterte auch diesmal, wie immer seit 1994. Und Chumacero wird wohl auf ewig damit leben müssen, "nur" als der 1,63 Meter große, angebliche Zwilling des deutschen WM-Helden Bastian Schweinsteiger zu gelten. Denn er sieht ihm so verdammt ähnlich, dass sie ihn "Chumasteiger" nennen. Javier Caceres

Zappelkünstler - Arjen Robben, Linksaußen

Netherlands v Sweden - FIFA 2018 World Cup Qualifier

Auch die Niederländer mit Arjen Robben werden in Russland fehlen.

(Foto: Getty Images)

Wahrscheinlich wird Cristiano Ronaldo bei der WM wieder einen Freistoß treten und ihn selber reinköpfen, wahrscheinlich wird Lionel Messi ein paar Loopings fliegen, und bestimmt wird Kylian Mbappé irgendwann mit überhöhter Geschwindigkeit geblitzt werden. Vielleicht wird es sogar ein paar ganz neue Zauberkunststücke zu sehen geben, aber sobald die Zyniker der Welt aufgehört haben werden, den gemeinen "Ohne Holland fahren wir zur WM"-Song zu grölen, werden sie feststellen, dass diesem Turnier trotz allem etwas fehlt: dass sich jemand rechts draußen den Ball schnappt, von dort hyperaktiv zappelnd nach innen zieht und den Ball dann keine Sekunde zu früh, aber auch keine Sekunde zu spät ins Tor schießt. Nein, niemand bei der WM wird können, was Arjen Robben kann, und so sollte die Fifa anordnen, dass sich irgendein Rechtsaußen zu Robbens Ehren wenigstens an diesem Move versucht. Im Eröffnungsspiel ruhen die Hoffnungen dann auf Aleksandr Samedow (Russland) und selbstverständlich auf Yahya Al-Shehri aus Saudi-Arabien. Christof Kneer

Elefanten - Didier Drogba, Sturm

Das letzte, was von Didier Drogba, 39, zu lesen war: Er trägt jetzt Glatze. Das Bild zum Thema vertrieb der ehemals Langmähnige in den Weihnachtstagen, drunter schrieb er: "Mein neues Ich!" Wäre doch sein altes Ich bei dieser WM dabei, wenigstens ein Doppelgänger, ein Alter Ego. 2006, 2010, 2014 waren "Les Elephants", die Profis von der Elfenbeinküste, qualifiziert. Immer reisten sie als elefantöses Versprechen an, das lag an ihm, an Drogba, der beim FC Chelsea nicht nur deshalb berühmt wurde, weil er dem FC Bayern im Dahoam-Finale 2012 den Champions-League-Sieg raubte. Doch jedes Mal während einer WM verwandelten sich die Elefanten in Mäuse. Eine Generation, in der viele den ersten Weltmeister aus Afrika zu erkennen glaubten, verschwand drei Mal nach der Vorrunde durch die Hintertür. Jetzt ist der Kontinent durch Marokko - gegen das Drogbas Erben das entscheidende Duell verloren -, Tunesien, Ägypten, den Senegal und Nigeria vertreten. Letztere sind die "Super Eagles". Afrika hofft, dass Adler besser als Elefanten fliegen. Klaus Hoeltzenbein

Fluch der Sahara - Pierre-Emerick Aubameyang, Sturm

Prozess um Berater-Provision nach Aubameyang-Transfer

Was will Pierre-Emerick Aubameyang? Beim BVB ahnen sie: Irgendwo anders noch mehr Geld für teure Sonnenbrillen verdienen.

(Foto: Bernd Thissen/dpa)

Marokko-Reisende wissen, dass man der Hygiene in dortigen Restaurants besser misstraut. Selbst in besseren Lokalen. Gabuns Nationalteam, angeführt von Dortmunds Pierre-Emerick Aubameyang, wurde der Mangel an internationaler Erfahrung zum Verhängnis. Die Gabuner frühstückten vorm Qualifikationsspiel in Casablanca frischgepressten Orangensaft. Mit Folgen: Das halbe Team klagte über Übelkeit, verlor gegen Marokko 0:3 und damit alle Optionen aufs erste WM-Ticket in Gabuns Geschichte. Javier Caceres

Worte aus Plüsch - Lukas Podolski, Sturm

Das Maskottchen der WM 2018 trägt eine Skibrille und einen sehr, sehr dichten grauen Bart, es ist ein Plüschwolf und heißt Zabivaka. 52,8 Prozent der an Maskottchen interessierten Russen haben das bereits 2016 in einer demokratischen Wahl entschieden. Hätte man in Deutschland nachgefragt, es hätten sich voraussichtlich 100 Prozent für ein Maskottchen ohne Skibrille und Bart entschieden, das Worte wie aus Plüsch spricht, einen sehr, sehr kräftigen linken Fuß besitzt und Poldi heißt. Wobei, ein Maskottchen wollte Lukas Podolski ja schon bei der EM 2016 nicht mehr sein, sondern ein Stürmer. "Ich habe eine wichtige Rolle", sagte er damals ein wenig beleidigt und hörte kurz darauf auf. Wahrscheinlich schaut er diesmal aus seiner Eisdiele in Köln zu und schreibt eine Kolumne wie aus Plüsch im Express. Es fällt sehr schwer, sich eine WM ohne Podolski vorzustellen. Als das zuletzt der Fall war, 2002, spielte für Deutschland noch ein Stürmer namens Bierhoff, der gegen Saudi-Arabien ein Tor aus 25 Metern mit der Pike schoss. Eine andere Fußballwelt. Sebastian Fischer

Tribünensänger - "The Boys in Green", der 12. Mann

France v Republic of Ireland - Round of 16: UEFA Euro 2016

Werden sicher ebenfalls schmerzlich werden: die sangesfreudigen irischen Fans.

(Foto: Icon Sport via Getty Images)

Seine besten Momente erlebt der Fußball oft nicht auf dem Rasen, und man tritt keinem Iren zu nahe, wenn man behauptet, dass dies vor allem dann gilt, wenn auf dem Rasen Irland spielt. Wer sich an die EM 2012 erinnert, der muss an das Gruppenspiel zwischen Irland und Spanien denken. 0:4, die Iren werden von Kurzpässen überfallen, bis am Schluss ihre Fans "The Fields of Athenry" singen, ein wunderbar kitschiges Lied über die Hungersnot von 1846, und sogar der ARD-Kommentator Tom Bartels dreieinhalb Minuten ergriffen schweigt. 2016: Wie die irischen Fans die Polizei nicht etwa anfeinden, sondern ihr auf den Straßen von Bordeaux eine Hymne singen: "Stand up for the French police!" Oder die Nordiren, deren Mannschaft sich ins Achtelfinale rumpelt, begleitet von Tausenden Fans, die einem Stürmer ein Lied dichten, der ständig auf der Ersatzbank sitzt: "Will Grigg's on fire, your defence is terrified!" WM 2018: Ohne Will Grigg, ohne Nordirland, ohne Irland. Die besten Momente müssen auf dem Rasen stattfinden, wie schade. Sebastian Fischer

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