WM 2010: Mesut Özil:Das Genie mit den traurigen Augen

Der FC Schalke jagte ihn vom Hof, heute wollen ihn Barcelona und Manchester: Der schüchterne Mesut Özil ist der kreative Kern der DFB-Elf, ein Ballartist vom Bolzplatz. Das macht ihn so wertvoll - und zum Angriffspunkt der Spanier.

Thomas Hummel, Durban

Wenn Mesut Özil von der Kabine zum Mannschaftsbus geht, dann kommt er derzeit an vielen Menschen mit Mikrofonen und Kameras vorbei, die viele Dinge von ihm wissen wollen. Mesut Özil bleibt dann stehen und sieht die Leute mit seinen großen Augen freundlich an. Doch zu nahe geht er nicht heran an die Mikrofone und Kameras, er drückt allenfalls eine Schulter leicht nach vorne. Er spricht gerade so laut, dass ihn die Leute verstehen. Und das ist schon eine Leistung für ihn, denn Mesut Özil spricht überhaupt nicht gerne vor vielen Menschen.

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Der Junge aus Gelsenkirchen und sein wichtigstes Tor: Mesut Özil jubelt nach dem 1:0 gegen Ghana, das für Deutschland den Einzug ins Achtelfinale bedeutete.

(Foto: afp)

Der 21-jährige Mesut Özil ist der geheimnisvollste Fußballer, den Deutschland vermutlich je gesehen hat. Dieses Fußball-Deutschland ist es ja gewohnt, breitbrüstige Führungsspieler zu beherbergen, giftige Terrier oder eiskalte Bomber. Einmal ist ihm ein Kaiser geschenkt worden, aber der sagt immerhin Sätze wie "Geht's naus und spuit's Fuaßboi". Bei dieser WM in Südafrika sagte der deutsche Fußball-Kaiser Beckenbauer im Fernsehen: "Was Özil macht, ist einzigartig."

Fußball-Deutschland hat sich seit mehr als einem Jahrzehnt nach einem Spieler wie Mesut Özil gesehnt. Es hatte ja mal Männer, die mit dem Ball was anfangen konnten, Häßler, Schuster, Netzer, Walter. Jetzt heißt der Mann, der im deutschen Mittelfeld den Ball bekommen sollte Özil, und das sagt auch viel aus über dieses Land, das derzeit zu Hunderttausenden vor Leinwänden und Beamern ihrer Mannschaft beim Fußballspielen zuschaut.

So wie einst Zidane

Mesut Özil ist in Gelsenkirchen geboren, er ist die dritte Generation einer türkischen Einwandererfamilie. Im Viertel gab es einen eingezäunten Bolzplatz, "Affenkäfig" genannt, da lernte Mesut Özil den Ball kennen. Als 1998 Zinedine Zidane die Franzosen zur Weltmeisterschaft dirigierte, nahm er den Ball mit auf den Bolzplatz und versuchte die Dinge mit ihm zu machen, die Zidane zuvor im Fernsehen gezeigt hat. "Zidane habe ich immer bewundert. Er ist außerhalb des Platzes nie negativ aufgefallen. Und er hatte diese Ruhe am Ball. Das hat mich fasziniert. Weil er so locker war und so zielstrebig", sagte er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ruhig am Ball, locker und zielstrebig. So spielt Özil in Südafrika.

Bundestrainer Joachim Löw hatte noch vor gut einem Jahr die Idee, am liebsten mit zwei Stürmern zu spielen, im 4-4-2-System. Dann kam Özil und der Bundestrainer änderte seinen Plan, denn an diesem Jungen konnte er nicht vorbei. Özil bekam als erster Nationalspieler seit vielen Jahren das Privileg, offensiver Mittelfeldspieler sein zu dürfen, eine Zehn. Und weil sich eine Mannschaft auf internationalem Niveau keine zwei Stürmer und eine Zehn mehr leisten kann, weil sie dann zu offensiv auf dem Platz steht, stellte Löw fortan nur noch einen Angreifer auf. Und Mesut Özil soll dahinter das Spiel machen.

Dabei ist Özil so gar kein Fußballer deutscher Art. Diese Leichtigkeit, diese Selbstverständlichkeit, den Ball zu beherrschen. Er hat in der Partie gegen Serbien binnen fünf Minuten zwei Pässe auf Lukas Podolski geschlagen, von denen einer gereicht hätte, um die monatliche GEZ-Gebühr zu rechtfertigen. Hätte Podolski nicht seinen wilden Ballertag gehabt, Deutschland hätte dank Özil das Spiel in Unterzahl noch gewonnen. Dazu seine knabenhafte Erscheinung, seine penibel gegelten Haare, seine Brillis im Ohr, wenn er aus der Kabine kommt. Solche Spielertypen werden von tugendhaften Zweikämpfern nicht ungern aus der Elf gemobbt.

Verheißung im Mittelfeld

Doch Mesut Özil wurde in der Nationalmannschaft von Beginn an von jedem unterstützt, auch Michael Ballack setzte sich für ihn ein. Wenn es ihm auf dem Feld nicht gutgeht, wenn er mal wieder einige Torchancen vergeben hat oder der Gegner ihm hart zusetzt, lässt er bisweilen die Schultern hängen und schaut so traurig drein wie vermutlich früher als Kind, wenn ihm auf dem Bolzplatz die Großen den Ball weggenommen haben. Als er gegen Ghana doch noch das 1:0 machte, erzählte er nachher: "Die Mannschaft hat mir geholfen."

Vor zwei Jahren etwa warb der türkische Nationaltrainer Fatih Terim vehement um den deutschen Sohn türkischer Eltern, und weil Mesut Özil auch damals nicht gerne mit vielen Leuten redete, blieb lange unklar, für welches Land er sich entscheiden würde. Und hatten sich nicht die meisten gegen den DFB entschieden? Die Altintops, Nuri Sahin, zuletzt Joel Matip.

Botschafter der Muslime

Doch Özil wollte für Deutschland spielen. Er habe sich ja nicht selbst einladen können, sagte er später. Als Joachim Löw bei ihm anrief, sei er überglücklich gewesen. Auch wenn er das Gästebuch seiner Internetseite kurz schließen musste, weil einige türkische Fans gar nicht einverstanden waren mit dieser Wahl. Dass er als gläubiger Muslim vor dem Spiel zu Allah für seine Gesundheit betet, macht ihn jetzt als Nationalspieler auch zum Botschafter der Muslime in Deutschland.

Eigentlich hätte er auch Botschafter des FC Schalke 04 sein sollen, schließlich spielte er dort in der Jugend und schaffte schnell den Sprung in die Bundesliga. Doch der Verein wollte dem 19-Jährigen damals den Platz nicht freiräumen im offensiven Mittelfeld und holte Ivan Rakitic als Konkurrenz, was vor allem Vater Mustafa Özil nicht gefiel. Es kam zu einigen unschönen Gesprächen, am Ende landete das Vertragsangebot der Schalker in der Bild-Zeitung. Plötzlich hatte dieser schüchterne, freundliche Junge des Beinamen "Schnösil" und "Gierig-Profi". Das Klima war irgendwann so vergiftet, dass Özil den Klub verließ, Werder Bremen schnappte sich die Mittelfeld-Verheißung, und soll plus spätere Zuzahlungen rund 6,5 Millionen für ihn überwiesen haben.

Noch immer zurückgeholt

Jetzt, vor dem Halbfinale gegen Spanien (Mittwoch, 20:30 Uhr in Durban) gehen die Schätzungen über Özils Marktwert über die 30-Millionen-Grenze hinaus. Barcelona, Manchester United - die größten Namen im europäischen Klubfußball sollen an ihm Interesse haben. Seit einem halben Jahr hat Werder-Manager Klaus Allofs versucht, mit Özil den Vertrag zu verlängern, weil der bestehende im kommenden Jahr ausläuft und Bremen dann keine Ablösesumme mehr kassieren kann.

Özil und sein Berater Reza Fazeli sehen den Entwicklungen angeblich sehr gelassen entgegen. Es heißt, der Profi würde gerne noch in Bremen bleiben, dem ruhigen Umfeld wegen. Die Mannschaft kann sich für die Champions League qualifizieren, er könnte sich noch ein Jahr lang ruhig entwickeln.

Auch bei dieser Weltmeisterschaft muss er nun einen neuen Entwicklungsschritt machen. Ihm kommt im Halbfinale sein bislang kongenialer Partner Thomas Müller abhanden, der durch seinen ewigen Betrieb am und im Strafraum viele Freiräume auch für Özil schuf. Müller ist wegen einer zweiten gelben Karte gesperrt, die Spanier werden sich nun ein wenig mehr um diesen so untypischen Deutschen kümmern können. Sie werden versuchen, ihm den Ball wegzunehmen, um die Traurigkeit in seinen Augen zu sehen. Doch dieser schüchterne Junge hat ihn sich bislang bei dieser WM noch in jedem Spiel zurückgeholt.

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