WM 2010: Manuel Neuer:"Es trägt auch keiner mehr Schnurrbart"

Nationaltorwart Manuel Neuer spricht vor dem Halbfinale gegen Spanien über Multikulti, den "Affenkäfig" in Gelsenkirchen, Therapien gegen Lagerkoller und mentale Vorbereitung à la Kahn.

Philipp Selldorf

SZ: Herr Neuer, haben Sie auch an der Polonaise teilgenommen nach der Rückkehr aus Kapstadt ins Mannschaftshotel?

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"Irgendwie wusste ich bald: Heute fällt kein Tor gegen uns", berichtet Manuel Neuer von seiner untrüglichen Vorahnung im Viertelfinale gegen Argentinien.

(Foto: afp)

Manuel Neuer: An der Polonaise habe ich auch teilgenommen, klar.

SZ: Was war da los?

Neuer: Wir wurden hier von den Mitarbeitern mit vielen Tänzen und Liedern empfangen. Afrikaner singen ja sehr gern, am Anfang haben sie ihr Shosholoza gesungen...

SZ: Was ist das?

Neuer: Ein südafrikanisches Lied. Heißt übersetzt, soweit ich das wiedergeben kann: "Kommt mit auf den Zug nach Südafrika". Sehr einladend.

SZ: Dann die Polonaise: Jemand soll sogar eine Häkeldecke auf dem Kopf getragen haben...

Neuer: Kurzzeitig. Ich verrate aber nicht, wer es war. Die Freude war sehr groß, sie musste raus. Dann macht man auch Sachen, die man sonst nicht macht. Aber am nächsten Tag war dann wieder Training, wir haben hier ja noch was vor.

SZ: Das Halbfinale. Gegen Spanien - man kann nicht gerade von einem leichten Weg sprechen.

Neuer: Dass wir kein Losglück hatten, das wussten wir ja. Aber das kann uns ja auch stark machen. Wir haben schon mehrere schwierige Spiele gemeistert, das steigert unser Selbstbewusstsein und kann uns bei einem Spiel wie gegen Spanien nur helfen.

SZ: Das Bild, das die deutsche Mannschaft hier vermittelt, ist das einer perfekten Gemeinschaft. Dabei ist sie ja nicht über Jahre gewachsen, sondern eher neu sortiert worden. Wie hat sie dann so schnell zueinandergefunden?

Neuer: Unser Zusammenhalt hat uns über das Turnier hinweg geprägt, aber ich muss auch sagen: Für mich persönlich war der Sprung von der U 21- zur A-Mannschaft gar keine große Umstellung. Viele Spieler von damals sind jetzt hier, das Klima ist ungefähr gleich, die Mentalität auch - eine deutsche Mannschaft bleibt eine deutsche Mannschaft. Zum Deutschen ist halt noch ein bisschen Multikulti hinzugekommen.

SZ: Wirkt sich dieser Multikulti-Effekt aufs Zusammenleben aus? Es ist ja keine klassisch deutsche Mannschaft mehr wie 1974 oder 1990.

Neuer: Es trägt auch keiner mehr Schnurrbart...Für einige mag das vielleicht wirklich eine Umstellung sein, aber für mich nicht. Ich komme aus dem Ruhrgebiet, wir sind ein tolerantes Volk. Ich bin mit Ausländern aufgewachsen und habe dadurch nie Probleme gehabt. Mesut (Özil) ist wie ich oder wie Hamit und Halil Altintop in Gelsenkirchen geboren. Man spielt gemeinsam im Verein, da gibt es keine Unterschiede.

SZ: Haben Sie auch schon in dem berühmten "Affenkäfig" gespielt, in dem Özil gekickt hat, als er noch ein Junge in Gelsenkirchen-Bulmke war?

Neuer: Klar kenne ich den. Aber in Bulmke war ich nicht zuhause, das ist ja Gelsenkirchen-Süd. Wir Bueraner leben im Norden, das ist so was wie das gehobene Viertel in Gelsenkirchen. Buer war ja auch mal eine eigene Stadt mit über 100.000 Einwohnern, aber dann hat sie sich mit Gelsenkirchen vereint.

"Wir harmonieren sehr gut"

SZ: Gibt es denn nicht doch ab und zu Stress und Streitigkeiten im Team? Irgendwann muss man sich doch gegenseitig auf die Nerven gehen.

Neuer: Im Training kann es natürlich immer mal wieder Auseinandersetzungen geben. Aber außerhalb haben wir genug Freiraum, da kann jeder für sich sein, wenn er will, und außerdem kann man ja jetzt auch Familie und Freunde sehen.

SZ: Sie haben Ihre Freundin hierher gelotst?

Neuer: Sie ist aus freien Stücken gekommen. Meine Mutter ist auch hier, und ein paar Freunde sind auch noch in Südafrika auf Tour. Insgesamt sieben Leute aus meinem Umfeld, ich habe also genug Unterstützung hier.

SZ: Tischtennis, Snooker, Playstation, das sind weiterhin die großen Wettkämpfe im Teamhotel?

Neuer: Wenn die Frauen weg sind, fängt man halt mit diesen Sachen wieder an. Ist eine gute Abwechslung. Ich bin auch nicht derjenige, der die Tür zumacht und sich zurückzieht, ich bin gern im Hotel unterwegs. Es sind sowieso nicht so viele Spieler auf ihren Zimmern, es ist anders, als sich das viele gedacht hatten. Wir haben da zum Beispiel den großen Physio-Raum. Da gibt es vier Liegen zur Behandlung, und wenn die vier Liegen belegt sind, nimmt man sich einen Stuhl, setzt sich dazu, nimmt sich einen Kaffee und quatscht ein bisschen.

SZ: Klingt, als wolltet Ihr nach dem Finale noch ein paar Wochen bleiben.

Neuer: Das ist wohl schwierig zu bewerkstelligen. Da werden die Frauen nicht mitspielen - und Felix Magath wartet sowieso zu Hause.

SZ: Die deutsche Torbilanz steht derzeit bei 13:2, das ist vor allem für die Abwehr ein Kompliment. Die stand vor dem Turnier am meisten unter Verdacht, keine WM-Reife mitzubringen.

Neuer: Wir haben uns schnell aneinander gewöhnt und harmonieren sehr gut. Auch wenn es manchmal auf dem Platz schwierig ist, zu kommunizieren...

SZ: Wegen der Vuvuzelas?

Neuer: ...unter anderem. Trotzdem fällt uns die Verständigung leicht, weil wir uns Zeichen geben und uns gut verstehen. Es wird von Spiel zu Spiel klarer und besser. Und was mich angeht: Ich versuche Ruhe auszustrahlen, damit die Anderen ein sicheres Gefühl haben und wissen, dass sie mir vertrauen und mich immer anspielen können.

SZ: Gab es Momente im Spiel gegen Argentinien, in denen sie dachten: Jetzt wackelt die Deckung?

Neuer: Nein, ich hatte immer ein super Gefühl. Irgendwie wusste ich bald: Heute fällt kein Tor gegen uns. Es war komisch: Argentinien war zwar öfter am Strafraum und hatte ein paar Situationen, aber mir kam es so vor, als ob wir ein Trainingsspiel machen würden. Hier passiert nichts, habe ich gedacht. Selbst wenn Argentinien mit sechs Mann in Überzahl kam und nur unsere Viererkette dagegenstand, sah es für mich so aus, als ob sie Verschieben trainieren würden. So kam es mir jedenfalls vor.

SZ: Beruhigendes Gefühl für einen Torwart.

Neuer: Es war sogar so, dass ich wusste: Wenn du dich richtig positionierst und du richtig zum Ball stehst - dann kann heute kein Tor fallen. Ich habe dann einfach immer wie ein Handballtorwart die Ecke oder die Lücken abgedeckt, die die Verteidiger offen gelassen haben. Dort wo unsere Abwehrspieler zugemacht haben, da habe ich frei gelassen.

SZ: Was den Eindruck erzeugte: Manuel Neuer hat ja keinen platzierten Schuss aufs Tor bekommen.

Neuer: Wer Ahnung hat, der sieht das: Die Bälle mussten so fliegen - die Argentinier können ja nicht durch die Verteidiger hindurch schießen. Aber wichtig ist bei dieser Strategie natürlich die Beinarbeit: Wenn du als Torwart einmal falsch stehst, dann kommst du nicht mehr zum Ball.

"Ich habe diesen Helferinstinkt"

SZ: Sie sind ein WM-Anfänger, aber über Sie wird wenig geredet - das ist wohl ein gutes Zeichen.

Neuer: Bisher sagen mir alle, dass ich das souverän mache und so spiele, als ob ich schon mehrere Weltmeisterschaften hinter mir hätte. Aber das sehe ich auch als meine Aufgabe, das muss ein Torwart einfach zeigen.

SZ: Nach dem 4:1 gegen England haben alle über Lampards nicht gegebenes Tor gesprochen, der Gegentreffer fiel dagegen unter den Tisch. Aber Sie haben sich vermutlich trotzdem Gedanken gemacht.

Neuer: Das Problem war, dass es vorauszusehen war: Es war eine kurze Ecke für die Engländer, dann müssten normalerweise zwei Spieler rausgehen, um die Flanke zu blocken, aber wir haben nur einen dahin gebracht. Dadurch hatte Gerrard Platz, und ich hab aus dem Augenwinkel gesehen, dass zwei Engländer in der Mitte frei standen. Und leider habe ich diesen Helferinstinkt: Ich will was gutmachen für die Kollegen, nachdem es schiefgegangen ist. Also gehe ich auf eigene Faust raus. Aber ich wäre besser auf der Linie geblieben, dann hätte ich bessere Chancen gehabt, den Ball zu halten.

SZ: Sie sagen, Sie wollten Ruhe vermitteln. Woher beziehen Sie Ihre eigene Ruhe? René Adler zum Beispiel hat sein eigenes strenges Programm zum Konzentrationsaufbau, auch Oliver Kahn und Jens Lehmann hatten ihre geistigen Konzepte. Wie ist das mit Ihnen?

Neuer: Man geht immer in sich und konzentriert sich, aber ich mache keine speziellen Übungen oder Mentaltraining. Ich höre auch keine Musik, wenn wir auf dem Weg zum Spiel im Bus sitzen. Ich gehe zum Aufwärmen auf den Platz und versuche, einen guten Ablauf hinzubekommen. Wie im Verein. Natürlich: Das ist eine WM hier, aber die Mannschaft hat es mir leicht gemacht. Ich habe schnell ins Turnier gefunden.

SZ: Sie und Ihr spanischer Kollege Iker Casillas haben im Halbfinale einen gemeinsamen Gegner: Er heißt Jabulani. Wie ist Ihr Verhältnis zum umstrittenen Spielball?

Neuer: Auf den Ball zu schimpfen ist meiner Meinung nach eine billige Ausrede. Ich finde es als Torwart immer wichtig, dass du immer positiv mit den Sachen umgehst - egal ob es der Ball ist, ob es windig ist, ob es Platzregen gibt oder der Boden schlecht ist. Wenn du im Winter auf Schnee spielst und immer denkst: Ich darf nicht wegrutschen, ich darf nicht wegrutschen - dann rutscht du auf jeden Fall weg. Und daher ist es wichtig, dass du immer an dich glaubst und sagst: Egal, wie der Ball fliegt, ich halte ihn. Dann kann nichts schief gehen.

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