WM-Historie (11): 1990:Kaiser und General

Der Trainer Franz Beckenbauer: Bei der WM 1990 arbeitet der einstige Starspieler als Teamchef akribisch und erzieht sich zu Geduld. Die zweite Krönung zum Weltmeister nimmt er gelassen hin.

Hans Eiberle

Ein nachtblauer Himmel über Rom. Zuckende Lichtblitze des Feuerwerks. Rauch, Fahnen, Gesänge, Jubel. Die Rasenbühne liegt im Dämmerlicht. Sie ist, da die weltmeisterlichen deutschen Fußballer sich auf ihrer Ehrenrunde feiern lassen, frei für seinen Auftritt. Die Hände in den Taschen der beigen Hose, die Goldmedaille um den Hals baumelnd, im dunkelblauen Sakko mit exakt gebundener Krawatte, schlendert Franz Beckenbauer selbstvergessen über das Spielfeld. Im Reinen mit sich und der Welt, am Ende eines langen Weges.

WM-Historie (11): 1990: Nachdenklicher Kaiser: Franz Beckenbauer bei der WM 1990.

Nachdenklicher Kaiser: Franz Beckenbauer bei der WM 1990.

(Foto: Imago)

Er war entflohen dem Tal der Tränen, in dem sich bei seinem Amtsantritt der deutsche Fußball nach dem Vorrunden-Aus bei der Europameisterschaft 1984 befand, er war ans Ziel gekommen, anders als bei seinem ersten WM-Anlauf 1986, der im Finale gegen Argentinien endete, anders als bei der EM 1988 in Deutschland, wo er im Halbfinale gegen die Niederlande scheiterte.

Es ist viel darüber gerätselt worden, was dem deutschen Teamchef in diesen Minuten durch den Kopf gegangen ist, und er hat auch einiges dazu gesagt. Vermutlich nicht die ganze Wahrheit. Manches hatte er vorher schon preisgegeben. Wie er als Nachfolger von Jupp Derwall "die Scherben zusammenkehren" musste 1984, "die die Zauberer hinterlassen hatten, die vor mir am Werk waren". Wie er büßte für die Fehler anderer, die "auf deutschen Fußballplätzen Leichtathleten heranzogen und keine Fußballer".

War Beckenbauer ein Trainer?

Es war nun die zweite Krönung des Kaisers, nach der ersten, die er 1974 in München als Spieler erfuhr. Aber war Beckenbauer jemals das, was man unter der Berufsbezeichnung Trainer versteht, ohne Ausbildung und Diplom? Was für eine Frage. Er hat sechs Jahre die Nationalmannschaft geführt, zweimal ins WM-Endspiel, einmal zum Titel. Und er hat zweimal den FC Bayern trainiert, ist einmal Meister geworden und hat das andere Mal den Uefa-Cup gewonnen.

Aber er hat nie ein Team auf die Saison vorbereitet, nie durch eine lange Spielzeit betreut. Dafür waren andere da: Horst Köppel und Berti Vogts, der getreue Eckart, der unter Beckenbauer Bundestrainer sein durfte. Oder Otto Rehhagel, den er beim FC Bayern kurz vor dem Finale im Uefa-Cup rauskegelte, ohne den Präsidenten zu fragen. Der Präsident, das war Beckenbauer selber.

Franz Beckenbauer muss man als Strategen mit dem Blick fürs große Ganze begreifen. Als einen, der Fortune hat, wie sie Napoleon von seinen Generälen forderte. Der beim Rasenschach die Figuren hin und her schob. Er war ein genialer Taktiker, und ein Meister der Selbstdarstellung. Leichte Hand, Laissez-faire, im Beckenbauer-Deutsch "schau' ma mal"? Das ist der öffentliche Beckenbauer, jedermanns Franz. Wer sich von dem täuschen lässt, hat schon verloren.

Beckenbauers Philosophie

Denn es gibt auch den detailversessenen, akribischen Arbeiter Beckenbauer. Den lernfähigen Beckenbauer, der eines Tages beschloss, nicht mehr in jedes Fettnäpfchen zu treten. Der andere sich nützlich machen ließ, wo er nicht mitreden konnte, etwa den Leistungsdiagnostiker Heinz Liesen. Öffentlich erklärte Beckenbauer: "Was nützt es, wenn ein paar Spieler prima Milchsäurewerte haben, aber keine Flanken schlagen können." Insgeheim ließ er Liesen 1986 die Veteranen an den Tropf hängen, wenn sie, geschwächt von Hitze und Höhenluft, darnieder lagen, und vertraute auch vier Jahre später auf den Professor.

Was Franz Beckenbauers Philosophie als Teamchef war? Das Machbare. Nicht nach den Sternen greifen, am Firmament überstrahlte sein Name ohnehin alles. Begrenztes Risiko. Zur Not ließ er Wagenburg-Fußball spielen, auch um den Preis, dass er die Nation, die Fans und nicht zuletzt sich selbst quälte. Mythos Beckenbauer, auf den durfte kein Schatten fallen.

Angst um seinen Ruf

Das Sicherheitsdenken mag aus der Zeit stammen, als der Libero sich alle Freiheiten nehmen konnte, weil andere hinter ihm Dreckarbeit verrichteten. Beispiel WM 1986. Er sei auf dem Holzweg mit seinen rustikalen Abwehr-Strategen Klaus Augenthaler, Norbert Eder, Karlheinz Förster, Dietmar Jakobs, Hans-Peter Briegel, warf ihm sein Weltmeister-Spezi von 1974 Paul Breitner vor. Der Journaille grauste es vor der "Rückkehr zum Primitiv-Fußball". Aber Beckenbauer rüstete für den Überlebenskampf, den der Mannschaft und den eigenen. Robert Schwan, sein Impresario, kannte die Ängste: "Er weiß, dass die Weltmeisterschaft an seinem Ruf kratzen könnte."

Doch es war ein Ruf wie Donnerhall, der fast alles übertönte. Man hatte einen draufgemacht im Trainingsquartier in Morelia, in der Woche vor Turnierbeginn? Wer es öffentlich machte, dem ging es an den Kragen, wie einem mexikanischen Journalisten. Was er mit dem am liebsten tun würde, demonstrierte Beckenbauer im Fernsehen: den Hals umdrehen. Er holte zum Rundumschlag aus und machte den deutschen Fußball nieder - vorbeugend, falls es schief gehen würde bei der WM.

Den maladen Teamkapitän Karl-Heinz Rummenigge hat er durchs Turnier geschleppt, was zum Aufstand der vom Torhüter Harald Schumacher angeführten Kölner Fraktion führte. Den aufmüpfigen Ersatztorhüter Uli Stein heimgeschickt. Und er hat fast alles heil überstanden, die Mannschaft ins Finale gegen Argentinien (2:3) geführt.

"Lieblingskind des Schicksals"

Vermutlich haben das WM-Turnier in Mexiko und der Misserfolg bei der EM 1988 in Deutschland, bei der das DFB-Team spielerisch erneut kein Glanzlicht aufsteckte, den Triumph in Rom erst möglich gemacht. Es war ein sechs Jahre währender Lernprozess, in dem sich Beckenbauer, der sich als "Lieblingskind des Schicksals" sah, klar darüber wurde, dass es mit weniger begnadeten Mitmenschen Geduld brauchte. Nie hat Beckenbauer erfahren müssen, was der zwölfte Mann fühlt, der nicht mitspielen darf. Er begann Mitgefühl zu entwickeln. Nie wieder würde er einem Spieler raten, "spiel' Klavier, spiel' Flöte, aber spiel' net Fußball", wie einst Andreas Brehme.

Ganz weit nahm Franz Beckenbauer sich zurück. Er erklärte, für ihn sei "der Weltmeistertitel nicht so wichtig, aber für die Spieler würde es mich freuen". Er redete die Mannschaft stark. Sogar mit seinen Kritikern, die er vier Jahre zuvor noch des "Schweinejournalismus" bezichtigt hatte, machte er seinen Frieden, weil zu der Einsicht gelangt, dass manche Einschätzung so falsch nicht war. Paul Breitner ausgenommen, der hatte ihn 1988 als Totengräber des deutschen Fußballs bezeichnet. Das nannte Franz Beckenbauer "Meuchelmord".

Rumpelstilzchen am Spielfeldrand

Der gewendete Beckenbauer. Er war nicht mehr so rabiat, weniger unnahbar. Trotzdem erschrak er, als ihm die ARD privat eine Viertelstunde Beckenbauer live am Spielfeldrand vorführte: als Rumpelstilzchen, Wüterich. Seine Mutter zu Hause in München erschrak nicht minder.

Beckenbauer war rastlos bei dieser WM. Wenn andere schliefen, saß er im Turmzimmer des Castello di Casiglio und brütete über seinem nächsten Zug beim Rasenschach. Plante, wer wann springen oder rochieren musste. Jeder sollte an seine Chance glauben, bis zuletzt. Keiner ließ sich hängen, Häßler warb für sich: "Ich bin hundertvierzig Prozent fit. Zwanzig Prozent streicht der Franz sowieso, zwanzig sind für die Psyche, die restlichen hundert für den Körper." Das überzeugte, er und Olaf Thon spielten im Halbfinale gegen England statt der von Beckenbauer hoch gelobten Uwe Bein und Pierre Littbarski. Schachfiguren alle im kaiserlichen Spiel.

"Tut mir leid für den Rest der Welt"

Seinem Hang zur Minimierung des Risikos entsprechend stellte Beckenbauer im ersten WM-Spiel 1990 gegen Jugoslawien fünf Abwehrspieler auf und lobte nach dem 4:1-Sieg: "So sind wir kaum zu schlagen." Und stachelte das Team an: "So ein Fußballfieber gab es zuletzt 1974, als wir Weltmeister wurden." Nach dem 2:1 über die Niederlande: "Die beste Mannschaft, die ich je gesehen habe, einschließlich der Weltmeister von 1974."

Als der Cup gewonnen war, fiel Beckenbauer in alte Verhaltensmuster zurück. Er verkündete, zum Missvergnügen seines Nachfolgers Berti Vogts, was wie die erste Strophe des Deutschlandlieds klang: "Ich glaube, dass die deutsche Mannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird. Das tut mir leid für den Rest der Welt." Er selber, versicherte der frisch Gekrönte damals, habe als Trainer keine Ziele mehr. Zwei Monate später war er Trainer von Olympique Marseille. Kaum ein Jahr danach Vizepräsident des FC Bayern München, dessen Trainer 1994, dann Präsident, Trainer und Präsident 1996.

Lieber mit Libero

Die einst bis an die Grenze der Verachtung reichende Behandlung von Fußballspielern, die er an der eigenen Vollkommenheit gemessen hatte, schien sich auf andere Fußballtrainer übertragen zu haben. Zuerst traf es Erich Ribbeck. Der war mit den Bayern aus Uefa-Cup und DFB-Pokal geflogen, in der Bundesliga nur Dritter. Und was noch viel schlimmer war: Ribbeck hatte den Libero abgeschafft. Majestätsbeleidigung. Ab dem 7. Januar 1994 hatte Franz Beckenbauer das Sagen. Beckenbauer, Libero aller Liberi, ernannte Lothar Matthäus zum letzten Mann. Am 7. Mai wurde der FC Bayern Meister, zum 13. Mal. Und Beckenbauer riet den beim Abschied Beifall klatschenden Bewunderern: "Seid's vorsichtig, vielleicht komme ich wieder."

Schon am 7. Oktober war er erst mal Präsident. Er verpflichtete den Italiener Giovanni Trapattoni, trotz der Sprachbarriere, und obwohl ihm nach eigenem Bekunden in Marseille die Sprachbarriere zum Verhängnis wurde. Und holte Otto Rehhagel, der in München so sein wollte, wie er in Bremen war. Natürlich musste das schief gehen. Am 27. April 1996 entließ Präsident Beckenbauer seinen Wunschtrainer Rehhagel, vier Tage vor dem ersten Finalspiel im Uefa-Cup gegen Girondins Bordeaux, und ernannte Beckenbauer zum Nachfolger. Trainer Beckenbauer bedankte sich beim Präsidenten Beckenbauer mit dem Cup.

Bloß mit der Meisterschaft wurde es nichts mehr. Das ging Beckenbauer an die Nieren; er musste sich operieren lassen und überließ die Mannschaft für den ruhmlosen Rest der Saison seinem Assistenten Klaus Augenthaler. So endete die Karriere des Trainers Franz Beckenbauer eher beiläufig. Das zum Trost für alle, die anders als der Kaiser weder gesalbt noch gekrönt wurden.

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