WM-Historie (10): 1986:"Ich hab's nicht mehr geschafft"

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Hans-Peter Briegel rannte, wie man nach 85 Minuten rennen kann. Er kam zu spät. Und muss seitdem über dieses dritte Tor im WM-Finale 1986 gegen Argentinien sprechen.

Thomas Hummel

Hans-Peter Briegel rannte. Er hatte ja Muskeln wie sonst keiner; der mächtige Oberkörper eingezwängt im grünen Trikot, die Stutzen runtergerollt, um den kolossalen Waden Luft zu geben. Riesige Schritte, weit ausholende Arme. Briegel rannte, wie man nach 85 Spielminuten in der Mittagshitze Mexiko-Citys noch rennen konnte. Quer über den Platz verfolgte er diesen Burruchaga, der mit dem Ball auf das deutsche Tor zulief. Briegel war nah, er griff schon nach ihm. Da schoss Burruchaga, unter Torwart Schumacher hindurch, der Ball kullerte ins Netz. 3:2 für Argentinien. Briegel trudelte aus, hielt sich an einer Stange hinter dem Tor fest. Und ließ den Kopf hängen.

Als Briegel (rechts) Burruchaga eingeholt hatte, kullerte der Ball scho an Torwart Schumacher vorbei ins Netz. "Nee, das kann ned wahr sein", dachte Briegel. (Foto: ag.dpa)

Nichts symbolisiert die deutsche Finalniederlage 1986 treffender als Briegels hängender Kopf. Eine Mannschaft, die vor allem von Kraft und Willensstärke lebte, war geschlagen. Inzwischen ist Briegel 50 Jahre alt und sagt mit Ironie in der Stimme: "Mein Problem ist, dass ich immer wieder auf dieses Tor angesprochen werde." Er lacht. Wie sich zeigen wird, redet er gerne und ausführlich darüber. "Da bleibst du wenigstens in Erinnerung."

Früher jagte einem der Defensivspieler aus der Nähe von Kaiserslautern ein wenig Angst ein; die "Walz aus der Pfalz" hieß er wenig liebevoll. Noch heute besitzt er einen massigen Körper, selbst das Gesicht wirkt muskulös. Doch der Ausdruck ist weich, freundlich. Während des Gesprächs lacht er oft.

Dabei beschreibt er ein fußballerisches Drama. 0:2 waren die Deutschen zurückgelegen, dann zwei Ecken von Brehme, zwei Tore. 2:2, acht Minuten vor Schluss. In Deutschland hatten sonst ruhige Gesellen lauthals in den Hof hinein gejubelt. Oder sich im Fernsehkeller mit den Freunden im Staub gewälzt. Dann kam Maradona an den Ball, in der eigenen Hälfte, und spielte diesen Pass.

"Das war tödlich"

Briegel kannte Maradonas Pässe, er war wie Argentiniens Wundermann in Italien angestellt. Zu Karrierebeginn in Kaiserslautern wegen seiner unorthodoxen (er selbst nennt sie: komischen) Spielweise verlacht, hatte 1982 zuerst Real Madrid um ihn geworben. Warum er ablehnte? "Ich war noch so bodenständig, ich konnte mir das nicht vorstellen." Zwei Jahre später, als Kaiserslautern Geld brauchte, ging er zu Hellas Verona. Briegel führte den Klub zur bisher einzigen Meisterschaft, er wurde als erster im Ausland aktiver Spieler zum Fußballer des Jahres in Deutschland gewählt. In der besten Liga der Welt hatte Briegel alle geschlagen. Auch Maradona.

Und dann spielte der diesen Pass. "Darf ich das mal aufzeichnen?" Briegel schmunzelt, während er in einen DIN-A-4-Block malt. Dabei haben einige ihn für das Tor verantwortlich gemacht. Er habe das Abseits aufgehoben, sagen sie. Briegel malt die Mittellinie, den Anstoßkreis, den Strafraum, das deutsche Tor. Da stand er, rechts draußen, fünf Meter in der eigenen Hälfte. Seit dem 0:2 verteidigte er gegen Argentiniens Stürmer Jorge Valdano, Mann gegen Mann. Valdano stand da, er stand daneben.

"Und dann ging hier einer raus", Briegel macht in der Mitte ein Kreuz, und von dort aus einen Pfeil Richtung Mittellinie. "Ich weiß nimmer, wer es war." Er schaut dem Gegenüber in die Augen. "Das war tödlich, warum sollten wir da Abseits spielen. Wir haben damals nie ausgemacht, auf Abseits zu spielen. Das war auch dumm. 2:2, da muss man erst mal sagen, wir retten uns in die Verlängerung. Aber wir sind alle nach vorne gelaufen, es war keiner mehr hinten. Wir haben gedacht, jetzt machen wir das 3:2. Da haben wir taktisch falsch gespielt." Briegel lehnt sich in den Stuhl zurück.

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Dass er überhaupt im Finale dabei war, ist für ihn bis heute ein medizinisches Wunder. Im zweiten Spiel gegen Schottland hatte er sich am Oberschenkel verletzt, "mindestens ein Muskelbündelriss", sagt Briegel. Normalerweise folgen vier Wochen Pause, noch heute fühle er ein Loch in der Muskulatur.

Doch wegen der Beziehungen zu dem dänischen Stürmer Preben Elkjaer-Larsen, der auch in Verona spielte, behandelte ihn heimlich der holländische Masseur der Dänen. Nachts sei der in das deutsche Quartier gekommen und habe ihn und den ebenfalls am Muskel lädierten Karl-Heinz Rummenigge massiert. "Es hieß, er sei eine Art Magier", erzählt Briegel. Jedenfalls stand er bei allen K.o-Spielen auf dem Platz, "wenn auch mit Schmerzen". Die mächtige Muskulatur des ehemaligen Zehnkämpfers half wohl bei der Genesung.

Briegel muss quer über den Zettel

Briegel beugt sich wieder über den Tisch, nimmt den Stift. "Gut, dann kam der Pass, hier ist der Strafraum. Und da hinten war ein Gestänge. Das weiß ich noch wie heut'." Briegel schmunzelt wieder, wie sich da Burruchaga als Strich dem deutschen Tor nähert und er als viel längerer Strich quer über den Zettel muss. Briegel lief damals die 100 Meter unter elf Sekunden. Und in diesen Sprint, da habe er 110 Prozent reingelegt.

"Der Toni (Schumacher) kam raus." Eine gestrichelte Linie kommt aus dem Tor. "Ich war nur noch einen Meter weg, wenn er im Tor geblieben wär', hätte der Burruchaga nie so einen Schuss angebracht. Den hätte der Toni gehalten. Das wär' ein Rollerball gewesen, der (Burruchaga) war ja auch kaputt. Nee, (Briegel schüttelt den Kopf) der ging raus und der Rollerball ging rein." Ein Meter fehlte ihm. "Ich hätt' den ja voll umgehauen." Er grinst lausbubenhaft. "Aber ich hab's nicht mehr geschafft. Viele haben gefragt, warum bist du da nicht reingegrätscht, aber ich konnt' nicht mehr." Dann, als der Ball drin war und er sich hinter dem Tor an der Stange festhielt, "da hab' ich gedacht: Nee, das kann ned wahr sein".

Fernsehmann Rolf Töpperwien hielt ihm sofort nach dem Spiel das Mikrofon hin. "Na gut, da hab ich ein bisschen Tränen in den Augen gehabt", sagt Briegel und senkt den Blick. Er erinnere sich nicht mehr, was er damals sagte. Vermutlich irgendwas zu diesem dritten Tor.

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